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Kapitel 6 oder 7 (X-Turn R) – Nicht nur des Nachts sind die gefährlichsten Kanten zu erklimmen

  • Autorenbild: claudia_roman
    claudia_roman
  • 1. Juni 2020
  • 12 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Mai 2024


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Bild von Pep Bras auf Pixabay


Die Leserin

musste kurz eingenickt sein. Benommen stellte sie fest, dass sich die Umgebung wieder verändert hatte. Und es war kaum zu glauben, ausnahmsweise zu ihren Gunsten. Die Ebene, die sie gestern noch ihren Feinden auf dem Präsentierteller anbot, hatte sich in eine unwegsame Hügellandschaft verwandelt. Nun breitete sich eine Landschaft voller Höhlen, Abgründe und Vorsprünge vor ihnen aus. Sogar der Nebel schien dichter und bot zusätzlichen Schutz vor unliebsamen Spähern. Doch selbst, wenn sie entdeckt werden sollten: B05 hatte ein frisches Relais und war bewaffnet. Der Mensch wusste, dass das in Anbetracht der Überlegenheit des Gegners nur ein schwacher Trost war, aber es gab ihm zumindest die Illusion von Sicherheit.


So quälten sie sich eine Weile über die Anhäufungen von verformten Gegenständen, Stahlresten und Betonfragmenten. Nirgendwo ließ sich ein Weg erahnen und nirgendwo bot der Grund ausreichend halt. Genauer genommen plagte sich allein die Leserin über die Hügel, denn ihre Begleitung flog mühelos darüber hinweg.

Die Frage brannte schon seit einiger Zeit auf ihrer Zunge, aber der Weg war beschwerlich. So beschwerlich, dass sie davon absah, mit ihren Worten unnötige Energie zu verbrauchen. Kurz nach der Bewältigung eines weiteren Hügels, blieb sie kurz stehen, um Luft zu schöpfen. Und endlich gelang es ihr:

„Wo wollten wir denn eigentlich hin?“

„Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja noch nicht mal genau, vor wem wir fliehen.“

„Na, vor den Behörden?“

„Wir brauchen nicht vor den Behörden zu fliehen, wir haben nichts verbrochen.“

„Sehe ich auch so!“

„Also! Wo ist das Problem?“

„Die sehen das anders!“ Kaum hatte der Leserin den Satz ausgesprochen, gab der Boden unter ihr nach. Sie versank nicht tief im Geröll, aber es reichte aus, sie um ihr Gleichgewicht zu bringen. Mit rudernden Armen stürzte sie rücklings auf den Boden. Der Schmerz verschlug ihr den Atem. Schwarze Funken tanzten vor ihren Augen im Takt des Rauschens, das durch ihre Ohren fegte. Die Funken und auch das Rauschen verdichteten sich, als griffen sie nach ihr, um sie in die Tiefe einer Ohnmacht zu ziehen. Die Leserin benötigte ihre ganze Willenstärke, um sich bei Bewusstsein zu halten. Wie aus weiter Ferne hörte sie ihr eigenes Stöhnen. Langsam löste der Schmerz den Griff um ihre Brust, um jedoch an einer anderen Stelle noch erbarmungsloser zuzuschlagen.

„Mein Fuß! Oh, verdammt, mein Knöchel! Ich glaub, er ist gebrochen“, rief sie seinem Begleiter hinterher, der unbeeindruckt voran geflogen war.

B05 drehte einen eleganten Bogen und hielt auf sie zu. Dass die Maschine diesmal keine seiner Geräusche produzierte, war ein schlechtes Zeichen. Es unterstrich den Ernst der Lage.

„Was machen wir denn jetzt?“ Hey-du kämpfte um ihre Fassung, als sie den Lichtstrahl sah, mit dem der Roboter ihren Fuß untersuchte.

„Du musst gleichmäßiger Atmen, sonst störst Du Deine Sauerstoffzufuhr zum Gehirn. Das ist in so einer Situation nicht hilfreich.“

„Du hast gut reden! Das tut sauweh!“


„Und Du hast recht: Der Knöchel ist gebrochen.“

„Und was machen wir jetzt?“ Nur mit Mühe konnte die Leserin die Panik in ihrer Stimme verhindern. „Hast Du nicht so ein Gerät wie die in diesen Science-Fiction Serien, mit denen man von außen den Knochen bestrahlt und der innerhalb von einigen Minuten wieder verheilt ist?“

„Ich weiß nicht, was Du meinst. Es klingt aber äußerst unrealistisch.“

B05 erhob sich schlingernd.

„Hey!“, rief der Mensch der Maschine hinterher. „Wo willst Du hin?“

„Ich suche etwas, mit dem ich den Fuß schienen und ruhig stellen kann und etwas, auf das du dich abstützen kannst, wenn wir weitergehen.“

„B05! Ich kann doch nicht...“ Der letzte Teil des Ausrufs wurde von einem lauten Zischen übertönt. Der Knall, als der Lichtstrahl den Roboter in der Luft zerriss, erschütterte die Umgebung. Die Reste des Erkundungsroboters rieselten in einem heißen Regen auf die Leserin herab. Ein Schatten senkte sich über sie und das letzte, was sie bewusst wahrnahm, war die Gestalt eines Polizisten in Kampfmontur und der Schatten eines Gewehrkolbens, der auf ihr Gesicht niedersauste.



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B05/47

hatte am Vortag nicht lang suchen müssen, um einen geeigneten Unterschlupf zu finden. Das kam ihm äußerst gelegen. Zum einen war die Gefahr, von den Feinden entdeckt zu werden, immer noch recht groß. Dazu kostete ihn das Konstrukt, mit dem er seine Begleiterin über die Distanz flog, nicht wenig Energie und er hatte keine Lust auf einen weiteren Relaiswechsel. Diesmal hatte er sich nach Arkastas Ruf in den Ruhemodus geschaltet und den x-Turn nicht bewusst erlebt. So wunderte es ihn nicht, dass die Luft in ihrem Versteck zwar einen leicht erhöhten CO2-Gehalt hatte, sich aber die Ausdünstungen wabernder Schlenkgrümpfe nicht nachweisen ließen.


Neben ihm in der räumlichen Enge stöhnte die Leserin. Der Roboter registrierte die Bewegungen der Augen unter den Lidern seiner Begleiterin. Auch der restliche Körper verarbeitete den vergangenen Tag mit kurzen unkoordinierten Bewegungen. Sie sah noch relativ intakt aus.


Hey-du öffnete die Augen und richtete sich halb auf. Sie wirkte erschöpft und körperlich angeschlagen, aber von einigen Kratzern und Hämatomen abgesehen, war sie. „Gott sei Dank, du lebst!“ Ihre Stimme klang so kräftig, wie bei ihrem ersten Treffen.

„Da irrst du dich, lieber Freund. Ich lebe strenggenommen nicht. Ich besitze keinen Stoffwechsel, geschweige denn die Gabe mich zu reproduzieren.“

„Ich hatte einen furchtbaren Traum: Unsere Feinde holten uns ein und zerstörten dich. Ich bin so froh, dass es nur eine Phantasie war.“

„Wir sollten jetzt gehen!“

„Das ist ein guter Plan. Ich möchte möglichst bald raus aus dieser Hölle. Das alles macht langsam keinen Spaß mehr.“

„Weißt du, wo es lang geht?“

„Wir müssen ein Schiff finden. Genauer: Eine holländische Pinasse aus dem 18. Jahrhundert.“

„Eine was?!“

„Das ist ein Dreimaster der niederländischen Ostindienkompanie, die damals als Hochseehandelsschiffe-“

„Was macht ein Hochseehandelsschiff aus dem 18. Jahrhundert in dieser Umgebung?“

„Das steht nicht in meiner Datenbank.“

Die Leserin schüttelte den Kopf.

Der Roboter erhob sich ungerührt und flog aus dem Unterschlupf. Er hatte in seiner Datenbank eine Schiffssirene gefunden und die Leserin spürte einen Hauch guter Laune bei der Maschine. Vielleicht versuchte sie auch nur, positiv auf seine Begleitung zu wirken. In jedem Fall verfehlte das Verhalten seine Wirkung nicht. Auch die Leserin pfiff leise vor sich in, als sie ihrem fliegenden Freund folgte.


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Die Leserin

Es änderte sich nichts!

Der Roboter flog über einen Untergrund hinweg, der für die Leserin eine Herausforderung darstellte. Hin und wieder, wenn sie einen halbwegs stabilen Grund erreichte, presste sie die Hände gegen ihren unteren Rücken und dehnte sich nach hinten. Nach der Wanderung in Beugehaltung und dem stetigen Blick abwärts war diese Bewegung eine Erleichterung.

Auch jetzt stand sie auf einem Hügel aus absurden Gegenständen. Sie hatte einen Kasten erklommen, der einem Tresor mit Handradventil ähnelte. Sein Boden verlief in Streifen auseinander und schmiegte sich an den Untergrund.

„Wollen wir eine Pause machen?“, rief sie der Maschine hinterher. „Wir sind schon seit Stunden unterwegs.“

„Ich möchte zumindest das Wrack sehen. Es wäre eine Erleichterung, wenn wir die Richtung wüssten, in der wir uns bewegen sollten.“

„Wieso weißt du das nicht? “ Hey-du, drehte sich auf dem Sockel und hielt nach 180° inne. Sie starrte in die Weite.

„Erstens verändert sich die Umgebung ständig und zweitens, weiß ich über die Zukunft des heutigen Tages genauso wenig wie du.“

Die Leserin hielt ihren Arm vor die Augen. Es war mehr ein Reflex, als dass es einen Nutzen hatte. Nirgendwo gab es eine Quelle, die sie blendete und der Nebel verschluckte alle Lichtreflexe und farbliche Irritationen.

„B05?“ Sie bemühte sich, seine Stimme nicht zittern zu lassen. „Kannst du diesen Punkt dort hinten mal ranzoomen? Ich glaube...“

Das, was sich in einiger Entfernung durch den Nebel quälte, näherte sich mit ungeheurer Geschwindigkeit.

„Mist!“, war das Fazit seines Begleiters. „Verdammter Mist! . . . Runter!“

In B05 stieg ein Verdacht auf, der langsam zur Gewissheit wurde.


Die Leserin sprang von dem Kasten und kauerte sich dahinter. Sie hatte instinktiv ihren Kopf zwischen die Beine gesteckt und hörte, wie die erste Geschoßsalve dicht über sie hinwegfegte. B05 hatte keine Wahl, als das Feuer zu erwidern.

Sie nahm das Gegenfeuer von B05 und sein Taktieren in der Luft, durch die Veränderung der Schallwellen wahr. Der Angreifer kam immer näher und das Gefecht wurde immer fordernder.


Hey du überlegte unterdessen, wie sie ihren Freund unterstützen konnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Sie legte ihren Kopf zur Seite und suchte ihre unmittelbare Umgebung nach einem Gegenstand ab, der als Waffe dienen konnte. Natürlich sprach daraus eine fast schon naive Hilflosigkeit und natürlich war ihr das bewusst.

Eine Handbreit von der Leserin entfernt, steckte ein Paddel im Sammelsurium. Die Konsistenz des Gegenstandes ließ sie einen Augenblick stutzen. Er war weicher, als er im ersten Moment erschien und die Finger der Leserin versanken im Material.

Es gelang ihr, es mit wenig Widerstand aus dem Durcheinander herausziehen und nicht ohne Verwunderung stellte sie fest, dass sich das Material verdichtete, wenn man es bewegte.

Hey-du spürte einen Schatten über sich hinweg fliegen und wagte es ihren Kopf zu heben, um ihren Angreifer ins Visier zu nehmen.

Die Bauart des Beobachtungsroboters unterschied sich nicht wesentlich von der ihres Freundes. Allein die Färbung war etwas dunkler und er hatte das Zeichen seiner Stadt auf dem oberen Segment seiner Kugelform. Das Ding hatte Schwierigkeiten seinen Waffenarm zu justieren und versuchte diesen Makel durch die Intensität und Taktung der Feuersalven auszugleichen. B05 kam kaum dazu, zurückzuschießen, so sehr war er damit beschäftigt, dem Dauerfeuer auszuweichen. Er variierte Position und Höhe und versuchte seinen Angreifer abzuschütteln. Der verfolgte ihn mit einer Hartnäckigkeit, die die Leserin an einen Wespenschwarm erinnerte. Der Vorteil dieser Situation bestand darin, dass die Maschinen, so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie die Leserin nicht bemerkten. Der Nachteil lag in der Rasanz ihrer Bewegungen. Hey-du hoffte, dass die Strategie ihres Freundes nicht darin bestand, das Verfolgung so lange durchzuziehen, bis einem von ihnen der Saft ausging. Das konnte lange dauern. Sehr lange!

Zudem war es gefährlich. Es brauchte nur eine kleine Ablenkung und B05 wäre getroffen, schwer beschädigt oder sogar zerstört.

Die Leserin hatte sich erhoben und schaute in die Höhe, in der sich nun das Schauspiel abzeichnete. Mit dem Paddel, das sich wie Knetgummi in ihre Hand schmiegte, stand sie auf dem Hügel. Ihr Gegner war nun dazu übergegangen, gezielter zu schießen. Wahrscheinlich ging ihm sein Energievorrat aus. Eines dieser Intervalle benutzte B05, um sich im Sturzflug auf Hey-du fallen zu lassen. Die Verfolgermaschine tat es ihm gleich. Nach wenigen Augenblicken war sie so nah, dass die Leserin, den Feuerarm erkennen konnte. Das Vorderglied mit dem Mündungsschaft der Waffe war gebrochen und hing lose an der Verankerung. Die Maschine konnte nur zielen, indem sie das hintere Gelenk in eine aufrechte Position brachte, so dass das Scharnier sich zum Ziel richtete. Im Sturzflug war das jedoch nicht möglich, denn durch den Fahrtwind drückte das gebrochene Armstück die Feuermündung von seinem Ziel fort. Das führte dazu, dass B05 Zeit zum Navigieren hatte. Er stoppte die Sturzkurve nur wenige Meter von dem Hügel, auf dem der Mensch stand. Langsam pendelte er zu Boden und krabbelte der Ebene entgegen, die sich vor ihnen ausbreitete. Es war der Leserin unmöglich zu begreifen, warum ihr Freund das tat. Sein Verfolger hatte sich ihm gefährlich genähert und hatte seinen defekten Waffenarm wieder justieren können. Es war aus dieser Entfernung kaum noch möglich, das Ziel zu verfehlen. Der Mensch überlegte nicht, sondern kletterte von seinem Hügel, um seinen Freund zu Hilfe zu eilen.

Sie kam zu spät. Die Erinnerung an ihren Traum umklammerte ihre Glieder und sie musst mit ansehen, wie der Strahl gebündelten Lichtes auf B05 zusteuerte. Es ging so schnell, dass sein Gehirn mit der Verarbeitung kaum hinterherkam und doch wirkte die Szene wie in Zeitlupe.

Das Licht zischte auf den Roboter zu, der wie eine Spinne geschickt über den unebenen Boden kroch und plötzlich stehen blieb. Der Strahl zerschellte wirkungslos an einer unsichtbaren Mauer. Ein zweiter Strahl wurde abgefeuert und ein Dritter und Vierter. Jeder von ihnen zersprang in einem Funkenregen, bevor er sein Ziel erreichte.

In der Zwischenzeit hatte die Leserin ihre Schockstarre überwunden und ihren Gegner erreicht. Sie wusste, es war gefährlich, da auch diese Maschine über ein 360° Sehradius verfügte und sie unter normalen Umständen bemerkt haben konnte.

Sie war jedoch derart in ihren Berechnungen und der Analyse dieses ungewöhnlichen Zustandes vertieft, dass sie die Gefahr nicht zu bemerkten schien.

Die Leserin holte mit ihrem Paddel aus, das durch die Bewegung erneut seine Dichte veränderte und schlug zu.

Der Roboter zerplatzte. Ein funkenschlagender Regen aus Metall, Schrauben und Drähten zerstob in alle Richtungen.


Die Leserin ließ das Paddel fallen, das mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden schlug und sich dort an die Unebenheiten schmiegte.

„Was war das denn?“, rief sie ihrer Begleitung entgegen.

„Ein Kraftfeld, ich habe es gespürt und berechnen können. Mein Kollege war wohl zu sehr beschädigt, um es zu bemerken.“

„Kollege ist gut!“ Er blickte auf die Reste der Maschine, die sich harmonisch in die Umgebung einfügten. „Und wie komme ich jetzt durch dieses Kraftfeld?“

„Einfach durchgehen.“ B05 schaltete wieder in den Flugmodus. „Es hält nur fliegende und hochenergetische Gegenstände ab.“


Die Leserin spürte nicht mehr als ein leichtes Kribbeln auf der Haut, als sie die unsichtbare Grenze überschritt und seinem fliegenden Begleiter folgte.

So wie immer.


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B05/47

„Können wir denn jetzt langsam eine Pause machen?“ Der Roboter hörte so etwas wie Ungeduld den Worten seiner Begleiterin.

„Du hast doch gesagt, wenn wir die Richtung kennen, können wir Rasten. Mein Magen knurrt schon „Hänschen klein“.

B05 hatte keine Ahnung, was das Hungerempfinden, des Menschen mit einem kleinen Hans zu tun hatte.

„Ich kenne kein Hänschen!“

„Das ist doch nur ein Kinderlied.“

„Mit dem Magen lassen sich keine kontrollierten Töne erzeugen. Das solltest du mittlerweile wissen. Du lebst schon lange in diesem Körper.“

„Das war doch nur ein Spruch! Ein Witz!“

„Ach Verzeihung!“ Der Roboter ließ das hysterische Lachen eines Clowns erschallen.

„Also können wir eine Pause machen?“

„Pause: Ja! Essen: Nein!“

„Und warum nicht?“

„Ich habe hier noch nichts zu Essen gefunden.“

Das war die Wahrheit, allerdings nur die halbe Wahrheit. Er hatte nichts gefunden, weil er nicht danach suchte. Er hielt es für kontraproduktiv, das Verdauungssystem des Menschen zu belasten. Im Gegensatz zu Hey-du wusste er, was auf sie zukam und es sollte seiner Freundin noch schlecht genug werden.

B05 hielt es allerdings für unangebracht, das der Leserin zu erzählen. Es umschloss zwar nicht notwendigerweise einen Verstoß gegen das erste Gesetz der X-Turn-Verhaltensregeln, aber seine Begleiterin konnte es falsch ausgelegen.


„Ist der Weg denn noch lang?“ Die Frage durchschnitt seine Gedankengänge.

„Ungefähr 0,000285% deiner durchschnittlichen Lebenserwartung.“

„Na, das ist ja hilfreich!“

B05 fühlte sich geschmeichelt und hoffte, dass ihn seine Stimme nicht verriet. „Aber ich helfe doch gern.“ Eitelkeit war für einen Erkundungroboter nicht angemessen.


Ihre Rast war kurz gewesen. Es war eine Abwägungsentscheidung, die dem Roboter trotz der statistischen Berechnungen schwer viel. Wie viel Erholung brauchte die Leserin, um das, was auf sie wartete, halbwegs unbeschadet zu überstehen? Wie viel Zeit hatten sie zur Verfügung? B05 wusste, dass Arkastas Ruf keinen Einfluss auf die Gefahr hatte, die auf diesem Schiff auf sie wartete, aber die Monster, die danach entstünden und die Instabilität der Umgebung kämen noch hinzu. Und das war kein angenehmer Gedanke. Es war also notwendig, noch vor dem Ende des Zyklus das Schiff zu erreichen.

B05 hatte es immer im Blick gehabt. Er brauchte nur die Höhe des Fluges zu variieren und es tauchte kurz durch die Nebelbänke auf. Mit jeden Schritt lichtete sich dieser Vorhang, bis es die blauen Schwaden schließlich nur noch zaghaft umspielten. Es lag weit Backbord gekränkt, am Ufer einer Wasserfläche. Die Hügel lagen in einiger Entfernung hinter dem Gewässer und kein Gegenstand in seiner Nähe überragte die beiden Masten, die sich noch aufrecht hielten. Der mittige Großmast und der Fockmast hatten sich durch den zerbrochenen Leib gegeneinander gelehnt und ihre Takelage bewegte sich, zusammen mit den Resten der Segel, wie Spinnengewebe in der Luft.

Der Kreuzmast, der einst über dem verzierten Überbau am Heck thronte, war abgebrochen und hing an wenigen Holzfasern am ausgefransten Stumpf des Untermastes. Die Pinasse war in der Mitte durchgebrochen, was von der Kraft zeugt, die sie in diese Welt schleuderte. Abgetrennte Planken lagen verstreut um ihren Rumpf herum und an einigen Stellen hatten die Kanonen den Schiffsbauch durchbrochen, hingen von Holzresten gehalten an seiner Außenverkleidung oder waren ins flache Wasser gestürzt.

Bereits gestern hatte er einen Eintrag in seiner Datenbank zu diesem Schiff gefunden. Allerdings war der im Dateiordner „Märchen und Legenden“ angeordnet. Spätestens nach den Erfahrungen, die hinter ihm lagen, wollte er über eine Verschiebung in den Faktenordner zumindest nachsinnen.

Nach diesem Eintrag, sollte im November 1755 dicht vor der portugiesischen Küste, das niederländische Handelsschiff „Zeelelie“ gesunken sein. Die Links führten zu einer Quelle, die von einer Erdbebenkatastrophe in Portugal in dieser Zeit berichtete. Offiziell war die Zeelelie also ein Opfer dieser Naturkatastrophe.. Was die „Zeelelie“ letztendlich in die Kugelwelt trieb, war nicht sicher zu sagen. Dass es sich aber um das beschriebene Schiff handelte, stand außer Frage. Die Farbe die einige Meter vom Bugspriet entfernt, am vorderen Teil des Schiffes den Namen verriet, war immer noch gut zu entziffern.


Die Leserin hinter ihm quälte sich den letzten Hügel hinauf und kam neben dem Roboter zum Stehen. Der Brustkorb seiner Begleiterin hob und senkte sich heftig, was wohl dem Bedürfnis nach mehr Sauerstoff geschuldet war.

„Ist es das? Oh, mein Gott! Ist das grässlich!“


„Es war mal ein stolzes Handelsschiff, doch nun liegt es schon recht lange dort.“

„Wo kommt es her?“

„Aus deiner Dimension, aber aus einer anderen Zeit.“

„Das hast du schon gesagt, aber wie ist es hierher gekommen?“

„Der Legende nach, war die schreckliche Arkasta selbst, aus den Wassermassen des Atlantiks entstiegen, die das Schiff in Tiefe rissen.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Wir gehen da rein?“

„Ich glaube nicht!“

„Wieso Glaube? Das hat nichts mit Glauben zu tun. Wir müssen das Schiff betreten, damit die Dinge geschehen, wie sie geschehen sollen.“

„Einen anderen Grund gibt es nicht? Irgendetwas, was sich nachvollziehen lässt?“

„Die Aufrechterhaltung des X-Feldes ist eine überaus nachvollziehbare Sache.“

„Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei!“ Und das war aus der Stimme seiner Begleiterin durchaus herauszulesen. B05 war beeindruckt von seiner Fähigkeit, Feinheiten innerhalb der Interaktion mit dem Menschen herauszufiltern. Er wusste, dass er im Grunde nicht dazu programmiert worden war. Es war eine überraschende Entwicklung, aber äußerst nutzbringend. Sicherlich hätte er ohne diese Fertigkeit nicht mit dem gebotenen Geschick auf Hey-dus Ängste reagieren können.

In diesem Fall bedeutete sein „Verständlich, aber unnötig“, mit dem der Roboter die Leserin beruhigte, eine Beugung der Tatsachen. Aber der Zusatz, dass es gut ausgehen sollte, war sodann eine Rückkehr zur nüchternen Faktenlage. Hier ging es nicht um Informationsvermittlung, sondern um Psychologie.


Es war ein Glück, dass das Schiff, in der Mitte zerschmettert und gebrochen, sich ihnen entgegen neigte. So war es für den Menschen möglich, seinem fliegenden Freund auf die Planken zu folgen.

„Und jetzt?“ , fragte Hey-du.

„Jetzt fliege ich unter Deck.“

„Und was mache ich?“

„Warten, bis ich rufe.“

„Kann ich nicht mitkommen?“

„Auf keinen Fall!“

„Was ist denn dort unten?“

B05 wusste, dass er jetzt zu schweigen hatte. Das, was im Folgenden geschehen sollte, musste die Leserin morgen für sich selbst zusammen setzen. Das war nicht mehr seine Aufgabe.


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