top of page

Kapitel 2 oder 11 – Wer nur liest ohne zu denken, erkennt sich niemals selbst hinter den Seiten

  • Autorenbild: claudia_roman
    claudia_roman
  • 1. Nov. 2020
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Mai 2024


ree

B05/47

B05 fühlte sich versöhnt.

Er hielt es für möglich, dass die Ursache seiner Milde, im nahenden Ende seiner Reise begründet lag. Es waren nur noch zwei Tage, in denen er die Aufgabe hatte, alles das, was er zuvor erlebte, so vorzubereiten, dass Hey-du und er nicht von einem X-Turn Paradoxon ins Nichts gezogen wurden. Der Roboter konnte sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlte und er hatte keine Ambitionen, das herauszufinden.

Er verschwendete diesmal keinen Gedanken an den Umstand, dass er sich erneut an einem anderen Ort befand, als er aus dem Ruhemodus hochfuhr.

Zu Beginn seiner Ruhephase war er noch in der Stadt gewesen. Diese Stadt befand sich nun viele Kilometer von hier entfernt und schwebte, weithin sichtbar, über die von verrosteten Eisenkonstruktionen, von brüchigen Betonfelsen und von anderen instabilen Gerätschaften durchzogene Inselwelt.

Dorthin mussten sie sich nun im Laufe des Tages bewegen und er durfte gleichzeitig seinen morgigen Tag nicht außer acht lassen, an dem er das erste Mal auf seine Begleiterin traf.

Zur Erleichterung des Erkundungsroboters ließ sich alles, was er mit Professor Güldendorf gestern in der Stadt besprach, in seinem Aufzeichnungsmodul abspielen. Der Professor musste nicht von der Existenz ihres bestehenden X-Feldes überzeugt werden. Er hatte Geräte, mit denen er das Feld nachweisen konnte. Er erklärte den beiden Reisenden auch, dass eine Hauptlinie existiert, sozusagen ein dominanter Zeitfluss, in dem sich die überwältigende Mehrheit der Akteure dieser Welt bewegen. Im Grunde war es der Roboter, der in der Zeit zurückreiste und Hey-du bewegte sich in der „richtigen“ Zeit.

B05 hatte daran gedacht, nach den technischen Details zu fragen, um die Kameras zu irritieren und die Temperatur im Klimaschacht so zu manipulieren, dass sie für einige Stunden nicht lebensbedrohend niedrig und gleichzeitig nicht zu hoch erschienen. Es galt unter allen Umständen zu vermeiden, dass jemand auf die Idee kam, es könnte sich um ein technisches Problem handeln und den Eindringlingen auf diese Weise auf die Schliche kam.

Ihr Gastgeber vergaß auch nicht dafür zu sorgen, dass im Vorgestern des Erkundungsroboters, die Vorkehrungen getroffen waren, die Leserin allein auf eine Streiftour zu schicken, um ein Video aufzunehmen, das im späteren Verlauf von erheblicher Wichtigkeit sein sollte. Für diesen Informationsaustausch musste der Zeitpunkt ausgewählt werden, in dem die Leserin für eine länger Zeit auf die Toilette verschwand.

Der Professor erzählte am Ende eines langen Tages noch davon, was ihn in dieser Stadt bewog, Dinge zu erforschen, die nicht vom Zentralcomputer abgesegnet waren. Dieser Zentralcomputer, der auf der obersten Ebene über die Stadt wachte und die Gesetze vorgab, an die sich alle hielten, war, ohne dass er es verlangte, der absolute Herrscher in dieser Staatsform.

Das erschwerte die Forschungsvorhaben des Professor erheblich und er musste lange warten, bis er den Status als wissenschaftlicher Offizier innehatte, der ihm die Privilegien brachte, um seine eigentliche Arbeit auszuführen. Das Problem war dabei nie der Zentralcomputer selbst, sondern stets die Menschen, die seine Berechnungen und Vorschläge für unumstößliche Gesetze hielten.

Er hätte seine spannende Unterhaltung gerne noch fortgesetzt, und über die Entstehungsgeschichte des X-Turns berichtet, doch der Abend war schon weit fortgeschritten und so gab er Hey-du den Auftrag, B05 im Laufe ihrer Reise danach zu fragen. Er würde sie, so versprach er, in einem Ordner auf die Festplatte des Roboters hochladen.


B05 schaute sich um. Sie hatten sich diesmal in einer kleinen Höhle versteckt. Die Wände waren bespickt mit Eisenstangen und der Roboter war erleichtert, dass er den Stabilisator hochgefahren hatte. Die Gefahr wäre nicht unbedeutend gewesen, dass sich in der Nacht die Wände bewegt und den fragilen Körper der Leserin aufgespießt hätten. Auch er hätte stark beschädigt werden können.

Nun jedoch befanden sich beide völlig unversehrt in dem Versteck, als die Leserin blinzelnd die Augen aufschlug.





ree

Die Leserin

Die Hoffnung, dass das doch alles ein Traum gewesen sein könnte, zerschlug sich augenblicklich.

Sie war immer noch in dieser Welt gefangen, die sie weder verstand noch mochte.

Sie hatte in ihrem Leben schon so manches Buch gelesen. Einige davon hatte sie sogar gerne und freiwillig zur Hand genommen. Sie kannte das Gefühl, in den Zeilen zu verschwinden und weder Zeit noch Raum wahrzunehmen und mit Haut und Haaren in der Fantasiewelt aufzugehen. Aber sie war sich in jeder Sekunde bewusst, dass sie sich in Wahrheit hinter den Seiten befand und nur den Sätzen folgte, die die Bilder in ihrem Kopf entstehen ließen. Ihr war bewusst, dass sie jederzeit die Lektüre beenden und das Buch zur Seite legen konnte.

Je nachdem, wo sie las, befand sie sich in ihrer Wohnung oder im Wartezimmer eines Arztes oder in einem Bus auf dem Weg zu einem Termin. Sie konnte das Buch zuschlagen, in ihre Tasche gleiten lassen oder auf den Tisch legen. Sie konnte aufstehen, herumgehen und etwas anderes tun. Es war nicht so, dass sie die Buchwelt tatsächlich kidnappte und nicht mehr gehen ließ. Sie war sich jede Sekunde sicher, dass sie im Grunde nur der Zuschauer einer Geschichte, nie jedoch ihr Akteur war.

Das war ein unausgesprochener Vertrag, den die Leserin mit der Erzählung einging, sobald er das Buch aufschlug. Es war der gleiche Vertrag, der dem Fernsehzuschauer garantiert, dass er sich auf dem Sofa einen Krimi ansehen kann, ohne Gefahr zu laufen, von einem Querschläger während der Schießerei im Showdown getroffen zu werden. Es war so selbstverständlich, dass es unsinnig erschien, darüber überhaupt einen Gedanken zu verschwenden. Im Grunde ging es über einen simplen Vertrag hinaus. Es war ein Naturgesetz.

Hier jedoch galten andere Spielregeln und die Leserin hatte noch nicht begriffen, wie diese Welt genau funktionierte.

Jetzt zum Beispiel blickte sie mit verschlafenen Blick auf den Roboter, der sich gestern bei ihm verabschiedet hatte, als sei es für immer gewesen.

„Guten Morgen, ... Roboter!“

„Guten Morgen, Hey-du! Wenn ich die Situation richtig interpretiere, müsstest du verwundert sein, mich hier zu sehen.“

„Nicht wirklich. Also, stimmt es?“

„Was stimmt?“

„Das, was du mir gestern versucht hast zu erklären.“

„Jetzt haben wir ein Problem. Halt!“ Einer dieser albernen Tonfolgen drang aus seinen Lautsprechern. Diesmal war ein dramatischer Zweiklang, der bei einem Film einen Überraschungsmoment untermalen könnte. Meist war dabei ein Gesicht in Großaufnahme mit weit aufgerissenen Augen zu sehen. „Bevor du mir mitteilst, was ich dir gestern gesagt hab, werde ich dir die aller wichtigste Regel beibringen, die man beachten muss, wenn man ein X-Feld lebend durchqueren möchte.“

„Du hast mir gestern schon gesagt...“

„Die wichtigste Regel ist, dass du mir niemals, wirklich nie, nie, niemals, erzählen darfst, was wir am Tag davor erlebt haben. Kannst du dir vorstellen warum?“

Die Leserin überlegte. Und ja, sie hatte eine Ahnung.

„Wenn es tatsächlich so ist, dass du rückwärts und ich vorwärts in der Zeit reisen, dann kennst du die Zukunft und wenn mir meine Zukunft nicht gefällt, dann hätte ich nun die Gelegenheit sie heute zu ändern, was dazu führte, dass meine Zukunft, die du erlebt hast, nicht eintreffen könnte. Ich sehe die Schwierigkeit.“

„Du bist doch cleverer, als ich dachte. Du hast das Problem erkannt. Diese Paradoxien sind gefährlich. Sie können dazu führen, dass das X-Feld zusammenbricht und alles vernichtet, was uns auf unserem Weg begegnete.“

„Und wie kommen wir hier wieder raus?“

„Du begibst dich auf die Reise und wenn alles so läuft, wie geplant, wirst du in elf Zyklen die Tür finden, die dich wieder in deine Welt bringt.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Jetzt suche ich dir etwas fürs Frühstück und dann begeben wir uns auf den Weg.“

„Aber wohin wir gehen, darf ich doch schon wissen, oder?“

„Ich erzähle es dir später. Kennst du eigentlich Zuckerspinnen?“


ree

B05/47

Nein, Hey-du hatte noch keine Idee, was Zuckerspinnen sind.

Also blieb B05 keine andere Wahl als sich auf den Weg zu begeben und diese kleinen, schmackhaften Krabbelviecher ausfindig zu machen. Schließlich war ihm noch in lebhafter Erinnerung, wie er vor einigen Tagen erstmalig das Essverhalten des Menschen analysierte. Und Hey-du hatte damals definitiv Erfahrung im Verzehr von Gliederfüßlern.


„Du verlangst doch nicht ernsthaft, dass ich Ungeziefer esse?“ So wurde er von der Leserin begrüßt, als er den Inhalt des Beutels in ihrem Versteck auf den Boden ausbreitete. Die Tiere waren durch die Jagd halb durchgeschmort und von einer bläulicher Färbung. „Ich verlange nicht, dass du Ungeziefer isst. Aber du musst die Zuckerspinnen essen.“

„Ich muss das auf gar keinen Fall. Never, ever!“

„Ich werde sie für dich noch ein wenig knuspriger machen.“

„Knusprig oder nicht. Sie sehen aus wie fette Spinnen und ich werde keine Spinnen essen. Nein, nein, nein!“ Es fehlte nur noch, dass der Mensch bei jedem „Nein“ mit dem Fuß aufstampfte.

„Aber es sind Zuckerspinnen! Es gibt Geschichten und Märchen über Kinder, die in die Außenwelt zogen, um Zuckerspinnen zu suchen und erst gefährliche Abenteuer erlebe mussten, bevor sie ihre Belohnung fanden.“

„Belohnung? Diese Viecher sehen aus, als seien sie die Eltern von ausgewachsenen Vogelspinnen.“

„Ich habe keine Ahnung, worüber du sprichst?“

„Ich habe noch nie so große Spinnen gesehen.“

„Ist das nicht phantastisch? Im Regelfall findet man nur Jungtiere, die sich unter den Betonplatten verstecken. Nur hin und wieder finden sich adulte Exemplare. Sie sind sehr scheu und verstecken sich oft in den Gewässern. Ich habe wieder die Wärmekamera eingesetzt und einen Lockruf in meinem Akustikprogramm gefunden und nun darfst du dich auf drei ausgewachsene Exemplare freuen. Das sollte für einige Tage reichen und du musst sie zumindest probieren, sonst verursachen wir ein Paradoxon.“ B05 hatte sich mit der Andeutung auf die Zukunft sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Und die Leserin konterte mit einer Information aus ihrer Vergangenheit: „Kannst du nicht wieder diese Beeren sammeln, die ich gestern zum Frühstück hatte? Bitte!“

Diese Information war nicht gefährlich. Im Gegenteil, es wäre möglicherweise gefährlich gewesen, sie nicht zu wissen. Der Roboter landete auf dem Boden neben den Spinnen. Er war stolz auf sich, es waren wirklich beeindruckende Exemplare.

„Ich habe dir gestern also Beeren zum Frühstück gesammelt?“ Er begann eines der Gliederfüßler mit einem seiner Greifarm anzuheben, schaltete die Flamme seines Waffenarmes auf mittlere Intensität und hielt es unter das Tier. Dabei ließ er es an seinem Gelenk langsam über dem Feuer drehen.

„Hätte ich dir das nicht verraten dürfen?“

B05 war so mit dem Rösten der Spinne beschäftigt, dass er keine Kapazität für die Berechnung des Gesichtsausdruckes des Menschen freimachen konnte, der beobachtete, was er tat. Er war sicher: Begeisterung war das nicht.

„Doch, doch!“, beantwortete er die Frage der Leserin. „Das sollte kein Problem darstellen. Aber wir müssen diese Informationen reduzieren,“ ergänzte er, „auf jeden Fall die Unangenehmeren.“

„Das sollte kein Problem darstellen. Ich befürchte so kleine Flüchtigkeiten werden sich nicht vermeiden lassen und es ist dir selbst ja gerade auch schon passiert.“

B05 horchte auf. Wie sollte ihm so etwas passiert sein, wenn alle Sätze, die er sprach, durch seinen Kontrollfilter liefen, der die Realität, die durch die Worte abgebildet wurden, mit der Wahrscheinlichkeit der Erfahrung der Leserin verglich. Das war eine Einstellung, die ihm der Professor in der Stadt verraten hatte und die im Hintergrund neben den anderen Systemen arbeitete. Das Programm war so subtil, er konnte es einfach vergessen. Prekäre Satzzusammenhänge kamen ihm auf diese Weise nicht in den Sinn. Er konnte sie also nicht mit seiner Äußerung in Gefahr gebracht haben. Das war einfach nicht möglich.

„Wann hab ich was aus meiner Vergangenheit verraten, was du nicht wissen darfst?“

„Ich weiß nicht, ob ich es nicht wissen darf, aber du sprachst vorhin darüber, dass du „wieder“ die Wärmekamera eingesetzt hast. Es ist wahrscheinlich geheimnisvoll genug, um keine Schäden zu verursachen, aber es ist mir halt aufgefallen.“

B05 musste zustimmen. Die Sache war so banal, dass sich das Wort „wieder“ ohne Probleme am Schutzprogramm vorbeischummeln konnte. Und obwohl die Situation, in der er die Wärmekamera benutzen musste, für Hey-du äußerst heikel gewesen war, stellte die bloße Erwähnung dieser wiederholten Nutzung kein Problem dar.

Ein Problem sollte es jedoch werden, die Leserin zum Verzehr der Zuckerspinnen zu überreden. Die stellte sich nämlich in einer Art und Weise gegen diese Erfahrung, die fast an Lächerlichkeit grenzte. Es musste definitiv eine kulturelle Ursache haben. Er hatte vergeblich in allen Dateien nach Hinweisen gesucht, die ihm die strikte Weigerung des Menschen erklären konnte.

„Dein Verhalten ist schlicht irrational.!“ Der Roboter richtete seine Worte an einen ausgewachsenen Menschen, der schrie und mit den Armen fuchtelte, als stünde er einem Monster gegenüber, das sich aus der Untiefe eines Gewässers brach. „Deine Weigerung steht keinem Bezug zu deinem Alter. Wenn ich das richtig sehe, solltest du diese Entwicklungsphase bereits mit durchschnittlich drei Jahren überwunden haben.“

„Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass ich das esse!“, brach es aus der Leserin heraus und dicke Tränen rannen über ihre Wangen.

„Wir haben keine andere Wahl. Der Erfolg dieser Reise hängt davon ab. Und so schlimm...“

Lauthals, aber unartikuliert, machte Hey-du deutlich, dass sie es anders sah und B05 überlegte, wie er mit dieser unreifen Weigerung umgehen sollte. Die Leserin war von dem Betonblock, der ihm als Bank diente auf die Knie gerutscht und wand sich vor ihm auf den Boden. Auf Einsicht brauchte er sich erst gar nicht verlassen, so viel war sicher. Also ließ er sich einige Ratschläge für den Umgang mit bockigen Kindern anzeigen. Der Text der Datei schob sich wie der Abspann eines Filmes vor sein Blickfeld, enthielt aber keine nützlichen Informationen. Zureden funktionierte ebenso wenig, wie Ablenkung und natürlich konnte er seinen Begleiter nicht mit einem Klaps auf den Po zur Vernunft bringen. Am pädagogisch wertvollsten war es, Hey-du die natürliche Folge seines Handelns spüren zu lassen. Aber sie hatten keine Zeit, darauf zu warten, bis das Hungergefühl des Menschen so dominant war, dass es ihm egal war, welche Nahrung ihn davon erlöste.

Es blieb ein einziger Ausweg. Von ihm wurde zwar eindringlich in der Datei abgeraten, aber B05 hatte keine andere Lösung. Er hob den Waffenarm und feuerte. Der Strahl schlug knapp vor den Knien der Leserin in den Boden ein. Er musste die Hitze gespürt haben und das Geheule verstummte sofort. Die Iris des Menschen schien in den rotgeränderten Augäpfel zu verschwinden. Es wirkte beinahe, als drücke sie etwas von innen aus den Höhlen.

„Es tut mir furchtbar leid“, sagte der Roboter. „Aber ich habe keine Wahl. Entweder du lässt dir jetzt dieses perfekt zubereitete und äußerst nahrhafte Gericht schmecken oder ich werde dich erschießen. Ich bin fast am Ziel und das bedeutet für dich auch, dass du eine echte Chance hast, diese Reise zu überstehen. Aber es ist wichtig, dass die Dinge so laufen, wie ich sie erlebt habe und dazu musst du dieses Tier essen. Irgendwo werden jetzt gerade diese Zeilen gelesen und wenn wir einen Fehler machen, wird die Seite, auf der unsere Realität beschrieben steht, ohne Skrupel herausgerissen werden. Und dann wandert sie in den nächsten Papierkorb und mit ihm unsere ganze Existenz.“ Nein, B05 hatte keine Ahnung, woher plötzlich dieses Wissen in ihm auftauchte, aber er spürte in jeder seiner Leitungen, dass es ganz genauso war. „Haben wir uns verstanden?“


ree

Die Leserin

Die Leserin konnte nicht sagen, wann sie sich das letzte Mal so gefühlt hatte. Sie war älter als drei Jahre alt gewesen, denn sie konnte sich noch ganz genau an das Gesicht der Erwachsenen erinnern, als sie sich weigerte, das zu sich zu nehmen, was dort vor ihr ausgebreitet auf den Teller lag. Sie sahen sie an mit einer Mischung aus Zorn, Enttäuschung und Hilflosigkeit. So hätte sie diesen Ausdruck heute beschrieben. Damals, in der Situation, hätte sie ihn einfach „böse“ genannt. Denn es war nichts weiter als böse, von ihr zu verlangen, etwas zu essen, was sie nicht wollte und es war böse von den großen Leuten, diese klare Unmöglichkeit nicht zu erkennen. Genauso böse war es, sie zu bedrohen, wenn Zuspruch, Ablenkung und Bestechungsversuche nicht funktionierten. Allerdings hatte sie in ihrem ganzen Leben nie jemand gezwungen, Würmer, Käfer oder Spinnen zu verzehren. Und wenn sie ehrlich war, bestand die grausamste Drohung, in der Ankündigung, dass sie bis zum Abendbrot keine Süßigkeiten mehr bekommen sollte. Mit vorgehaltener Waffe mit dem Tode bedroht, wurde sie deswegen noch nie.

So hatte auch der Waffenarm, der auf ihren Kopf zielte, eine Überzeugungskraft, die die Worte des Roboters niemals erreicht hätten.

Ihr kam es vor, als zöge jemand von außen an einem Faden, der an ihrem Kopf befestigt war und ließ sie nicken.

„Wie ... wie esse ich das denn?“ Und im nächsten Augenblick, als sie die Antwort hörte, bereute sie die Frage.

„Du nimmst das Tier und brichst erst einmal die Beine heraus. Du musst dabei ein wenig drehen.“

Hey- du starrte auf die Spinne, die B05 vor ihr auf den Boden gelegt hatte. Er deutete mit dem Waffenarm auf den rauchenden Körper und die Leserin war froh, dass er nicht mehr auf eines ihrer lebenswichtigen Organe deutete. Damit war aber das Erfreuliche dieser Situation bereits ausgeschöpft..

„Dann musst du das Bein der Länge nach aufreißen und das Fleisch von der Haut ziehen. Am besten mit den Zähnen, so als sei die Haut ein Löffel.“

Hey-du musste sich dazu zwingen, das Tier anzusehen. Es war durch die Hitze etwas geschrumpft, hatte aber immer noch die räumliche Ausdehnung einer Handfläche. Die Beine waren ungewöhnlich stark für ein Spinnentier und lediglich die unteren Glieder waren dünn und spitz und erinnerten an die kurzen Stricknadeln, mit denen man Socken herstellen konnte. Doch in diesem Fall waren es haarige Stricknadeln. Die Greifzangen lagen, zu Klauen verkrümmt, eng am Kopf und die Augen – die Leserin konnte die Anzahl nicht eindeutig feststellen. Hatten Spinnen nicht acht Augen? – waren nur durch ihre glatte, runde Struktur zwischen dem, von der Hitze aufgesprungenem Gewebe auszumachen. Zwischen der der schwarz-verkohlten Behaarung schimmerte die Indigopigmentierung hervor. Sie wirkte sogar noch leuchtender in diesem Zustand. Leuchtender, aber nicht appetitanregender.

„Ich habe irgendwie überhaupt keinen Hunger.“ Das war eine glatte Untertreibung. Die Leserin starrte auf den ausladenden Unterleib und den etwas kleineren, aber dennoch imposanten Oberkörper, der in das winzige Köpfchen führte und unterdrückte, die Übelkeit, die sie überrollte.

„Ich hab eine Idee!“ B05s Ausruf hatte etwas Enthusiastisches. Es war selbstverständlich einem Roboter nicht möglich, enthusiastisch zu sein, das war auch Hey-du klar. Aber wenn er den Worten eine Emotion zuweisen sollte, wäre es diese gewesen.

„Meine Datenbank hat mir zum menschlichen Essverhalten einen seltsamen Spruch angezeigt. Er besagt, dass das Auge mitisst.“

„In dieser Situation eine äußerst treffende Aussage.“

„Die Aussage ist völlig unzutreffend. Augen haben nichts mit dem Verdauungsvorgang, auch nicht mit der Nahrungsaufnahme zu tun“. B05 machte eine bedeutungsvolle Pause. „ Ich habe aber verstanden, was damit gemeint ist. Es ist nicht das Auge, das mitisst, sondern die visuelle Wahrnehmung stellt, genau wie auch olfaktorische Reize Verbindungen im Gehirn her, die eine wichtige Unterstützung zur Verdauungsarbeit antreiben. Sie regen beispielsweise den Speichelfluss an, um nur einen Effekt zu nennen.“

„Aha! Und was sind olfaktorische Reize?“

„Ich zeige dir das. Ich habe zwei Beeren dort auf der Bank gefunden. Mach mal die Augen zu und nicht schummeln.“

Die Leserin tat, was der Erkundungsroboter von ihm verlangte. Es war ihr zwar nicht geheuer, aber besser, als erschossen zu werden, war es allemal.

„Jetzt schnupper mal. Kennst du den Geruch?“

Es roch in der Tat nach diesen leckeren Beeren von gestern. Dieses liebliche, aber sehr dominante Aroma war ihm noch gut in Erinnerung geblieben. Der Leserin hörte seinen Magen knurren.

„Und nun mache den Mund auf.“

Ohne nachzudenken, ließ sie sich die Beere in den Mundraum schieben und wie gestern auch, war das Geschmackserlebnis beeindruckend.

Natürlich war vorherzusehen, was mit der zweiten Beere passieren musste, die gleich danach in seinen Mund wanderte und die Leserin machte sich darauf gefasst, das Spinnentier zusammen mit der Beere auszuspucken. Wenn nicht...


...wenn nicht das, was sie zu schmecken bekam, alles, was sie bis dahin an Köstlichkeiten zu sich genommen hatte, hinter diesem Erlebnis wie trockenes Brot wirkte.

Es war wie eine Explosion, ein Feuerwerk: Zart, cremig, aromatisch, leicht salzig und nicht so süß, wie der Name es vermuten ließ.

„Das ist...“

„...doch nicht so schlecht, was?“

„Es schmeckt wie pürierte Datteln mit Erdnussmus, in das man etwas heiße Zartbitterschokolade gerührt hat.“

„Die hat aber weniger Kohlenhydrate und mehr Protein und außerdem...“

Die Leserin interessierte nicht mehr, woraus dieses Essen bestand und auch die Form der Speise war ihm egal geworden. Sie hatte Hunger und das war einfach gut.


Nach anderthalb Zuckerspinnen später, begaben sie sich auf den Weg in die Stadt. Die Leserin wusste nun, dass eine Stadt eine andere Bedeutung hatte, als in ihrer Welt. Es war für sie immer noch schwer vorstellbar, dass diese riesigen Kugeln, die ab und zu weit auseinander durch den Nebel schimmerten, ganze Ökosysteme in sich aufgenommen hatten. Sie waren für die Menschen, die dort lebten, in gleicherweise Lebensgrundlage und Schutz vor der Außenwelt. So erklärte es der Erkundungsroboter.

Die Wanderung verlief ereignislos in dieser seltsamen Umgebung die aus Wasser, Beton, Metallgerüsten, Rohen, Kabeln und einer Unzahl eigenartig verformter Nutzgegenstände zu sein schien.

Ihr Unterschlupf war diesmal eine Art Höhle aus Metall, die wie die überdimensionale Karosse eines Autowracks geformt war. Es gab einen Zugang, der in der Tat wie eine Autotür aussah. Dort, wo sich die Glasscheibe befinden sollte, zeichneten sich nur die Umrisse des Fensters in das Blech.

Die Leserin betrat, hinter ihrem fliegenden Freund eine Halle, die wie der Fußraum eines Autos aussah und sie kam sich vor wie ein Wichtel, der im Fußraum auf den Beifahrersitz starrte, der sich wie ein Felsen zu seiner linken in die Höhe zog. Der Raum war immer noch von einer grotesken Ausdehnung, wirkte aber erheblich kleiner, als es von außen den Anschein hatte. Hey-du fühlte sich allerdings zu erschöpft, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.


Textanfang

Kommentare


Frühstück
Mittag
Abendbrot
  • Twitter
  • Facebook
  • YouTube

©2019 Claudia Roman - Autorin. Erstellt mit Wix.com

bottom of page