Kapitel 3 oder 10 - Das wirklich Böse wartet im Innern
- claudia_roman

- 1. Okt. 2020
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Mai 2024

Die Leserin
Sie war satt und zufrieden, als sie die Augen öffnete. Was hatte der Roboter gemeint? Wie lange sollte sie ihre Reise dauern? - Insgesamt zwölf Tage, von denen nun der dritte angebrochen war. Sie hatte allerdings bereits erfahren, dass Zeit in dieser Umgebung eine
andere Rolle spielte. Diese zwölf Tage
Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay konnten also ungewöhnlich lang werden,
wenn Arkasta, oder wie dieser dumme Vogel auch immer heißen mochte, es so wollte.
Sie verstand diese Welt nun ein wenig und sie hatte begriffen, dass ihre Hauptaufgabe darin bestand, unhinterfragt das zu tun, was der Erkundungsroboter B05/47 ihr auftrug. Dieser Umstand zehrte in keiner Weise an ihrem Stolz, denn alles war ihr so fremd und kam ihr so bedrohlich vor, dass sie sich auch am Anfang des dritten Tages wie ein ängstliches Kind fühlte, das an der Hand seiner Mutter auf der Verkehrsinsel einer gut befahrenen Hauptstraße stand.
Es war alles nicht leicht zu verkraften. Die ständig wechselnde Umgebung, die keine Orientierung zuließ, die absonderlichen Dinge, die darin verstreut lagen und die keinem nachvollziehbaren Zweck zu dienen schienen, die todbringenden Monster und nicht zuletzt der Umstand, dass sie und ihr Begleiter in jeweils anderer zeitlicher Richtung unterwegs waren, das alles zerrte an den Nerven. Und sie hatte herausgefunden, dass es erträglicher wurde, wenn sie es vermied, der Situation einen Sinn abzuringen. Wenn es so war, wie B05 es behauptete, konnte ihr nichts passieren.
Der Unterschlupf hatte sich nicht verändert, wie die Leserin erleichtert feststellte. Sie hatte sich gestern den „Fußraum“ des Beifahrersitzes zum Übernachten ausgesucht, sich in den weichen Bodenbelag gekuschelt und sich mit einem überdimensionierten Bonbonpapier zugedeckt. Ein dicker Staubflusen diente ihr als Kissen.
Sie reckte sich und war erstaunt, wie wenig Probleme ihr die Muskeln machten, obwohl die lange Wanderung und die Aufregung gestern immer noch in ihren Knochen steckten. Links von ihr erhob sich der „Beifahrersitz“ in die Höhe und es gelang ihr hinter dem baumhohen Schalthebel und der Anhöhe, die die Trennlinie zum Fußraum der Fahrerseite bildet B05 auszumachen, der ebenfalls langsam in den Betriebsmodus hochfuhr.
Der Leserin hörte ihn schimpfen: „Oh, Mann! Wo bin ich denn jetzt schon wieder? Was geht mir dieser Mist auf die Schaltkreise!“
„Guten Morgen, B05! Ist alles in Ordnung?“
Der Roboter schien sie zu ignorieren und schimpfte weiter: „Wenn das nicht langsam aufhört, kann man mich am Ende der Reise auf den Müll werfen.“
„B05? Hab ich etwas falsch gemacht?“
Der Erkundungroboter hatte sich erhoben und flog auf sie zu.
„Jedes Mal wache ich an einer völlig komplett falschen Stelle auf und immer liegt es an mir, die Dinge in eine Richtung zu lenken, damit es für Dich passt!“
Der Leserin war ratlos. „Und was kann ich dagegen tun?“
„Zunächst einmal die Klappe halten und mir dann ohne weiter Fragen folgen.“
„In die Stadt?“
„Ruhe!“ B05 unterstrich das Wort durch einen drohenden Tusch! Die Leserin hätte beleidigt sein wollen, aber er konnte der Szene eine gewisse Komik nicht absprechen.
„Natürlich in die Stadt! Schließlich will ich, genau wie du diesen unsäglichen Zustand hinter mich bringen.“
Der Roboter steuerte an ihr vorbei. Dorthin wo gestern noch eine kleine Öffnung den Zugang ermöglichte, von der nun nichts mehr zu sehen war.
„Gestern war da noch eine Tür!“ Versuchte die Leserin eine Erklärung.
B05 zielte mit seinem Waffenarm auf die Stelle und feuerte.
„Jetzt auch!“ Und ohne ein weiteres Wort, bewegte er seinen Kugelkörper in die Freiheit.

B05/47
Er war genervt. Das war ein eigenartiger Zustand, fremd, unnatürlich und völlig uneffektiv. Er war eine Maschine, verdammt noch mal! Seine Programmierung sah diese Empfindung nicht vor. Er war gebunden an das systematische Sammeln und das analytische Auswerten von Informationen. Auf diesen Ergebnissen hatte er Entscheidungen zu treffen, die nach automatisierten Gesetzen der Logik in ein Handeln übersetzt wurden. Der Zustand des Genervtseins führte zwar auch zu Handlungen, die waren aber weder logisch noch automatisiert. Und sie verwirrten ihn. Dass diese Verwirrung ihn nicht auf den Pfad seiner Programmierung zurückführte, war dabei ein fast schon folgerichtiger Schluss. B05 schüttelte sich. ‚Ein fast schon folgerichtiger Schluss‘, was war das für eine bescheuerte, ungenaue Umschreibung! So ein diffuser Gedankengang wäre ihm vor diesem behämmerten X-Feld nie eingefallen.
Aber er war seit Beginn der Reise der Teil, der sich mit der Zeitfolge herumschlagen musste. Das war nicht nur gegen seine Natur und überdehnte seine Schaltkreise, es war einfach falsch. Wäre er ein Mensch, hätte er den Begriff der Ungerechtigkeit bemüht, aber um jetzt auch noch emotional besetzte Umschreibungen zu benutzen, war er noch nicht tief genug gesunken.
Zu Beginn der letzten Ruhephase war er noch in der Stadt gewesen.
Diese Stadt befand sich nun 15,4372 km von ihrer aktuellen Position entfernt (Es war eine grobe Schätzung, die er durch die relative Größe ihrer Ausdehnung wagte). Sie schwebte, weithin sichtbar, über die von verrosteten Eisenkonstruktionen, von brüchigen Betonfelsen und von anderen instabilen Gerätschaften durchzogene Inselwelt.
Dorthin mussten sie sich nun im Laufe des Tages bewegen.
Zur Erleichterung des Erkundungsroboters ließ sich alles, was er mit Professor Güldendorf gestern in seiner Wohnung besprach, in seinem Aufzeichnungsmodul abspielen. Der Professor musste nicht von der Existenz ihres bestehenden X-Feldes überzeugt werden. Er hatte Geräte, mit denen er das Feld nachweisen konnte. Er erklärte den beiden Reisenden auch, dass eine Hauptlinie existiert, sozusagen ein dominanter Zeitfluss, in dem sich die überwältigende Mehrheit der Akteure dieser Welt bewegen. Im Grunde war es der Roboter, der in der Zeit zurückreiste und Hey-du bewegte sich in der „richtigen“ Zeit.
B05 hatte daran gedacht, nach den technischen Details zu fragen, um die Kameras zu irritieren und die Temperatur im Klimaschacht so zu manipulieren, dass sie für einige Stunden nicht lebensbedrohend niedrig und gleichzeitig nicht zu hoch erschienen. Es galt unter allen Umständen zu vermeiden, dass jemand auf die Idee kam, es könnte sich um ein technisches Problem handeln und den Eindringlingen auf diese Weise auf die Schliche kam.
Der Professor erzählte am Ende eines langen Tages, was ihn in dieser Stadt bewog, Dinge zu erforschen, die nicht vom Zentralcomputer abgesegnet waren. Dieser ZC der auf der obersten Ebene über die Stadt wachte, war der absolute Herrscher in dieser Staatsform. Er berechnete die Gesetze, an die sich alle Bewohner hielten. Im Grunde ein perfekter Ratgeber, wie der Professor schloss, frei von Machthunger und Willkür ohne Emotionen und einzig und allein den Werten und Normen Untertan, die nach seinen Kalkulationen für ein reibungsloses Zusammenleben notwendig waren. Das Problem war, so Güldendorf, nicht die Maschine, sondern der Absolutheitsanspruch, der seinen Vorschlägen zugesprochen wird.
Das erschwerte die Forschungsvorhaben des Professor erheblich und er musste lange warten, bis er den Status als wissenschaftlicher Offizier innehatte, der ihm die Privilegien brachte, um seine eigentliche Arbeit auszuführen.
Er hätte seine spannende Unterhaltung gerne noch fortgesetzt, und über die Entstehungsgeschichte des X-Turns berichtet, doch der Abend war schon weit fortgeschritten und so gab er Hey-du den Auftrag, B05 im Laufe ihrer Reise danach zu fragen. Er würde sie, so versprach er, in einem Ordner auf die Festplatte des Roboters hochladen.
Aus der Entfernung hörte er den Menschen rufen. „Nun renn doch nicht so!“
Der Roboter drehte sich mit einem eleganten Schlenker der Ruferin entgegen.
„Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass ich mitnichten renne? Für eine Fortbewegung, die diesen Namen verdient benötigt man mindestens zwei dieser Beine. Bei vier Beinen, spricht man allerdings eher vom Galoppieren oder, wenn man sich der Jagdsprache bedienen will, vom Sprengen. Das Wort, das meine Fortbewegung am Boden treffend umschriebe, wäre „Krabbeln“. Aber augenblicklich krabble ich nicht, ich fliege! “
„Das sagt man doch nur so!“
„Es ist aber falsch!“
„Was schreist du mich denn so an?“
„ICH SCHREI DOCH GAR NICHT!“ Dass die Vibrationen, die aus seinem Lautsprecher drangen, für ihn wahrnehmbar waren, musste ein Zufall sein. Er hatte nicht das Gefühl, lauter als sonst zu sprechen.
„Na gut. Aber du fliegst nach meinem Geschmack ein wenig zu schnell. Wie du siehst, ist der Boden hier sehr uneben und das Gerümpel, was auf dem Weg verstreut herumliegt, ist ziemlich wackelig zu überqueren. Sind wir vor etwas auf der Flucht?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Hätte ja sein können, dass du das aus dem schließen konntest, was noch auf uns zukommt. Schließlich haben wir ja vorgestern eine Begegnung...“
Oh, wie dumm dieser Mensch war. „HALT!“
„Was?“
„Nenne mir das erste Gesetz, ich habe dir darüber doch wohl schon berichtet, oder?“ Der Roboter beendete seine Worte mit den ersten Takten des ersten Satzes der fünften Symphonie von Beethoven...c-Moll...op 67.
Dadada da! Es war komplett irreal, aber gab seinen Worten eine unleugbare Dramatik. B05 beobachtete sein Handeln mit einer Mischung aus ... ja, was? Mit einer Mischung aus Irritation und Vergnügen. Allein, dass er über seine Gefühle nachdachte, war so absurd, dass es ihn in einen Zustand verspielter Albernheit führte. Er hatte diese Funktionen schon vor einigen Tagen entdeckt, aber nun erst reflektierte er, was diese unbedeutenden Soundeffekte und Stimmverzerrungen in ihm auslösten. Auf alle Fälle verbesserten diese Gedanken seine Laune.
„Ach so, ich soll dir nichts aus meiner Vergangenheit erzählen. Entschuldigung.“
„Gut!“, sagte B05. „Dann lass uns weiterkommen. Ich werde dir den Boden freischießen, aber es wird viel Energie verbrauchen und auch ein Flugrelais. Habe ich dir schon gezeigt, wie man das wechselt?“
Der Leserin schwieg eine Weile und dann nickte sie
„Sehr schön. Wir werden einen strammen Gang einschlagen müssen, denn der Weg ist noch lang und wir müssen ihn auf jeden Fall bis zum Ende des Zyklus abgeschlossen haben.“
„Wo wollen wir denn hin?“
Die Maschine deutete mit ihrem Waffenarm auf die Kuppel, die sich in einiger Entfernung über die Schrottinseln in die Höhe erstreckte.
„Die ist doch gar nicht so weit entfernt.“
„Wir haben ein schwieriges Gelände vor uns.“
„Warum wirkt die denn, als stehen wir nur einige hundert Meter daneben?“
„Weil sie so groß ist. Und nun komm!“

Die Leserin
Die Idee, durch die Hindernisse eine Schneise zu schießen, stellte sich als praktikabel heraus. Zwar war der Weg immer noch durch wackelige Unebenheiten, Metallstücke und Betonplatten unterbrochen und wenige Stellen ließen sich nur durch Kletterpartien überqueren, doch zumindest war die Strecke relativ zügig begehbar.
Die Wanderung dauerte dem Dauerfeuer des Erkundungsroboters zum Trotz länger als der Zyklus. Wie in Trance beschleunigte die Leserin ihren Schritt als der letzte Ton von Arkastas Ruf in der Umgebung verhalte. Und wie erwartet wurde der Untergrund unberechenbar. Scheinbar stabile Stahlkonstrukte, schmolzen unter ihren Berührungen wie Butter in der Sommersonne. Geröll und Metall türmte sich in die Höhe und versperrten den Weg. Hier und da schossen Eisenpfähle aus dem Boden und machten das Überleben zu einem Glücksspiel. Die Wasserlachen, die sich in den Unebenheiten sammelten, verwandelten sich zu glitschigen Eisflächen, sobald die Leserin ihren Fuß darauf setzte. Oder aber die Pfütze, die eben noch so seicht vor ihr lag, dass man trotz den Verunreinigungen den Boden durchschimmern sah, veränderte sich zu einem bodenlosen Abgrund. Nur ein Reflex, der sie das Gleichgewicht halten ließ, bewahrte sie davor, in die Tiefe gezogen zu werden. Trotzdem versuchte sie, dem Roboter zu folgen, der langsam aber unbeirrt vor ihr herflog. Monster, die sich aus den Wassern oder den Geröllbergen wühlten, konnte sie beim besten Willen nicht gebrauchen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit traten sie in den Schatten der Kugelstadt. Sie nahm fast den gesamten Himmel ein. Nun, im Grunde war „Himmel“ nicht der richtige Ausdruck für das, was sie erblickte, wenn sie den Blick nach oben richtete. Das Blau dort war keine atmosphärische Erscheinung. Es war nur der Nebel, der sich in kaum abschätzbarer Höhe verdichtete und das, was hinter ihm lag, durch eine undurchdringbare Schicht verdeckte. Der Dunst ließ genug Licht durch, um die Umgebung zu erhellen, verriet aber die Quelle nicht.
„Die Kugel hat einen Durchmesser von 2,29724 Kilometer und wird von vier Pfählen in einer Höhe in 6,00365 Kilometern gehalten.“
„Aha!“ Die Leserin vergaß die Zahlen augenblicklich. Das einzige, was ihr im Gedächtnis blieb: Es war eine überschaubare Fläche für eine Stadt, selbst wenn sie in Schichten übereinanderlag. Das änderte aber nichts an der einschüchternden Wirkung, die die Kugel ausstrahlte, wenn man sich unter ihr bewegte. Die Pfähle, die sie in 6000 Metern Höhe hielten verjüngten sich dem Fluchtpunkt entgegen und stießen an einer nicht zu identifizierenden Stelle auf die Unterseite der Kugel, die sich durch den Nebel halbtransparent über den Wanderern ausbreitete. Das physikalische Know-how ging bei der Leserin über ein Grundwissen nicht hinaus, aber es reichte, um zu erkennen, dass diese Konstruktion, im Grunde unmöglich zu erschaffen war. Die im Verhältnis zu seiner Tragkraft lächerlich dünnen Beine, hätten unter dem Gewicht zusammenbrechen müssen. Davon war sie überzeugt.
Ebenso fiel ihr auf, dass die Fläche unter der Kugel weder von Schrott, noch von Wasserflächen oder anderen Unwegsamkeiten überzogen war. Das Stützbein, auf das sie zusteuerten ließ sich ohne Mühe erreichen.
„Da müssen wir jetzt hoch?“
„Ganz genau! Ich werde nach in die technische Ebene fliegen und die Kamera ausstellen, die einen der Klimaschächte bewacht. Es ist nur zur Vorsicht. Der Professor hat gesagt, dass die Technik dort eh ständig ausfällt und meistens ausgeschaltet bleibt, da die Wiederaufnahme im Durchschnitt über eine Stunde dauert und den Aufwand nicht wert ist. Dort ist eine Leiter, die kann man dann unbeobachtet benutzen.“
„Moment! Du willst, dass ich 6km auf einer Leiter dort hochklettere?“
„Natürlich!“
„Gibt es keinen Aufzug!“
„Selbstverständlich gibt es einen Aufzug, aber diese Leute haben uns nicht eingeladen und sind uns zu großen Teilen nicht freundlich gesinnt. Es wäre fatal, sich jetzt erwischen zu lassen.“
Und ehe die Leserin protestieren konnte, flog der Erkundungsroboter zur Kugel empor. „Ich bin in einer Stunde wieder da. Bleib stehen, wo du bist. An der Stelle wird dich keiner bemerken. Und Monster werden hier nicht erscheinen.“

Nachdem B05 seine Aufgabe erfolgreich durchgeführt hatte, erstellte er eine Popup-Nachricht, die zu gegebener Zeit vor seinem Sichtfeld auftauchte. Er durfte unter keinen Umständen vergessen, den Professor nach dem Ablauf des Manövers zu fragen, das er nun durchführte. Der Roboter hatte erkannt, dass Paradoxien nur dann das X-Feld zum Einstürzen brachten, wenn sie sich nicht innerhalb der vorgegebenen Zeitspanne in eine schlüssige Handlung einfügten. Eine Videoschalte in die Zukunft, war demnach möglich, wenn es für die Zeitlinie der Zukunft von Bedeutung war. Sollte er es heute allerdings versäumen, den Professor über die Art und Weise ihres Eindringens in die Stadt zu informieren, könnte er es ihm gestern nicht gesagt haben und das führte dann in der Tat zu einem Paradox, das das Ende ihrer Reise bedeuteten konnte.
146,573 Minuten später, erreichten sie die Schleuse, die in die Kugelstadt führte. Von dort mussten sie dem Schacht weiter auf die sechste Ebene folgen. Er war langsam hinter der Leserin hergeflogen, die zunächst mit schnellen Bewegungen die Stiegen hinaufkletterte, die an den Seiten innerhalb des Schachtes angebracht waren. Es dauerte keinen Kilometer, da wurden seine Bewegungen langsamer und nach knapp der Hälfte der Strecke, musste B05 den Menschen antreiben. Als sie schließlich das Ende der Leiter erreicht hatten und der Roboter den Öffnungsmechanismus betätigte, war Hey-du nicht mehr in der Lage seine Hände von der Sprosse zu lösen, um sich in den sicheren Raum hineinzuziehen.
Es benötigte die Überredungskunst seines Waffenarms, mit dem er dem Menschen einen leichten aber unangenehmen Stromschlag durch die Glieder jagte.
„Ich werde nie wieder aufstehen!“, jammerte seine Begleitung, als sie sich mit letzter Kraft durch die Luke zog und auf dem Boden liegen blieb.
Was für ein Unsinn! „Deine Körperkerntemperatur ist gerade mal bei 35°C. Du hast lediglich eine leichte Hyperthermie. Wenn ich meiner Datenbank vertrauen kann, bekommst du schlimmstenfalls einen Schnupfen. Kein Grund, nie wieder aufzustehen.“
„Ich bin zu schwach für eine Diskussion. Ich habe das Gefühl, ich bin durch Eismeer geschwommen.“
„Auch das ist Unfug. Ich habe die Temperatur im Schacht auf konstant aufgerundet 6,74387°C gehalten. Deine Kleidung, deine körperliche Konstitution und die prognostizierte Bewegungsenergie in die Berechnung eingezogen, war das der niedrigste Temperaturwert, der deine Vitalfunktionen nicht gefährdet. Der Vergleich des Schachtes mit einem Eismeer ist falsch, was den Wärmezustand angeht und falsch, was seine räumliche Ausdehnung anbelangt. “
Die Leserin stöhnte und rappelte sich auf die Füße. „Wenn ich jetzt entschließe, dir einfach wortlos zu folgen, legst du dann in Zukunft bitte nicht alles, was ich sage, auf die Goldwaage?“
„Ich verstehe nicht, was du meinst? Was ist eine Goldwaage?“
Die Leserin antwortete nicht, was B05 nicht weiter störte. Es war mit großer Wahrscheinlichkeit nicht relevant.
„Ich bin wieder halbwegs warm. Was machen wir jetzt?“ Der Roboter hörte die unerträglich vage Einschätzung seiner körperlichen Verfassung.
„Also, was machen wir jetzt?"
„Jetzt suchen wir den Professor.“
„Welchen Professor?“
„Den Professor, den wir brauchen, damit sich die Handlung in die richtige Richtung entwickeln kann.“
„Und wo finden wir ihn?“
B05 wusste es. Er wusste es, weil er aus der Zukunft dieses Menschen kam und schon gestern hier gewesen war.
Sie traten aus einem kleinen Gebäude, das die Zugänge zu den Versorgungsschächten umschloss. Es war nicht schwer, unbemerkt an den einzigen Wachposten vorbeizukommen, der in einem Überwachungshäuschens hinter einem Fenster in ein Magazin starrte . Sonst war niemand zugegen und so konnten sie problemlos unter dem Radar durchschlüpfen, dessen Grenzen dankenswerterweise durch einen rotierenden Laserpointer angezeigt waren. Die anderen Sicherheitssysteme liefen elektronisch und ließen sich im Vorfeld ohne großen Aufwand überbrücken.
Die Wohnblocks der Stadt clusterten sich um den Mittelpunkt der Ebene und hatten die Aufgabe, neben der kontrollierten Unterbringung der Einwohner, die Statik der Kugelstadt aufrecht zu erhalten. Für die Stabilität der Fensterfronten, die die Sphäre von der Außenwelt trennte, waren ebenfalls hohe Gebäude zuständig, die sich an das Glas schmiegten. B05 hatte selbst keine Erinnerungen mehr an seine Heimatstadt. Das war ihm nicht zum ersten Mal aufgefallen, aber wie so oft, wusste er, wo er zu suchen hatte, um an die Informationen zu kommen. Die Informationen zogen an der Innenseite seiner Kamera vorbei. Auf diesem Weg konnte er erfahren, dass die Gebäude, die sich in diesem Randgebiet befanden, neben den Zugängen zu den anderen Ebenen und den Versorgungs- und Energieschächten, behördliche Gebäude, wie Polizei und Verwaltung oder Kranken-, Ärzte und Beratungshäuser beherbergten.
Der Weg in den Wohnbereich selbst führte durch eine Grünanlage. Der Roboter kam nicht umhin die fast mathematische Präzession zu bewundern, mit der die Bäume, Blumenbeete und Rasenflächen über die vielen kleinen Hügel angeordnet waren. Einzig die Kurven des Bächleins, dass sich durch den Park schlängelte, hätte seiner Meinung nach, symmetrischer berechnet werden können.
Es war ein leichtes, den Block auszumachen, in dem sie Professor Güldendorf antreffen sollten und nachdem die Leserin die Türklingel mit dem entsprechenden Namen betätigte, schnorrte auch schon die bekannte Stimme aus der Gegensprechanlage.
„Ich habe Feierabend!“
„Netter Mann!“ B05 fühlte wieder Verwirrung über den Ausruf der Leserin. Die deutlichen Worte des Professors und ihre Intonation, ließen in keiner Weise Schlüsse auf die Freundlichkeit des Herren zu. Doch er beschloss, seiner Verwirrung durch eine andere Strategie als die Ursachenforschung der irrationalen Wortwahl der Leserin zu begegnen. Er würde das in Zukunft ignorieren. „Herr Professor? Wir haben ein Problem und brauchen ihre Hilfe. Es geht um einen X-Turn.“
Nach einer kurzen Weile summte der Türöffner.
Ich darf nicht vergessen, ihn zu fragen, wie man die Kamera im Klimaschacht manipuliert und die Überwachungselektronik umgeht, dachte er noch, als er zusammen mit Hey-Du den Eingangsbereich des Hochhauses trat.
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