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Kapitel 4 oder 9 – Haus, Heimat und Beschränkung sind wohl kaum das Glück der Welt

  • Autorenbild: claudia_roman
    claudia_roman
  • 1. Sept. 2020
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Mai 2024


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B05/49

Es war nicht das, was er erwartet hatte.

B05 war wieder an einer Ladestation angedockt, befand sich aber an einem völlig neuen Ort. Er vermaß den Raum und errechnete zwölf Meter zur gegenüberliegenden Wand. Realistische Wald- und Wiesenskizzen hingen dort um ein größeres Gemälde herum, auf dem ein Sonnenuntergang über einem Hafen zu sehen war. Darunter stand das Sofa einer Sitzgarnitur, die, ebenso wie die Tapete, ein dezentes Streifenmuster zierte. Sie stand um einen tiefen Tisch herum, auf dem einige Zeitschriften lagen. Zu seiner Linken, dem Fenster mit den zugezogenen Vorhängen gegenüber, befand sich eine Tür, die zu beiden Seiten von Bücherschränken umstellt war. B05 suchte ein passendes Wort, um das Arrangement zu beschreiben. Er kam auf „initiierte Unordnung“.

Nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung gab ihm den Hinweis, dass er gerade in einer Kugelstadt in den Funktionsmodus hochgefahren war. Und er hatte sogar eine Ahnung, in wessen Appartement er sich aufhielt. Er überlegte, ob Hey-du ebenfalls diese Sprünge erlebte oder ob es einen Hauptzeitstrahl gab und er von dort aus rückwärts durch die Zeit reiste. Der Erkundungsroboter stellte verwundert fest, dass ihm diese Vorstellung missfiel. Ein Mensch konnte mit seiner Anpassungsgabe, seiner Fantasie und seinen Schutzmechanismen, die ihn vor seelischen Schäden bewahrten, viel besser auf die Ambivalenzen eines X-Feldes reagieren. Auch wenn der Einwand, ein Roboter bräuchte doch wohl keine psychischen Schutzmechanismen, auf den ersten Blick plausibel erschien, es war das problematisch. Für eine aufs Lernen programmierte Maschine waren Berechnungen, die zu paradoxen Ergebnissen führten, ebenfalls schädlich. Die Schäden, die das verursachen konnte, waren sogar irreversibel und ließen sich nicht durch eine Gesprächstherapie beheben. Noch befand sich B05 in einer erträglichen Lage, aber es ging ihm ums Prinzip.


Die Tür öffnete sich und ein Mann betrat den Raum. Ohne einen Blick auf den Roboter zu verschwenden, trat er auf das Fenster zu, faste die Schnur an der Seite und öffnete die Vorhänge. B05 zog seine Beine an den Körper und startete den Flugmodus.

Der Mann drehte sich um und sah ihm entgegen. Es war der Mann aus der gestrigen Videoschaltung.

„Guten Morgen, B05. Eine seltsame Situation, denn gestern haben wir uns kennengelernt. Doch ich glaube, du kennst mich noch gar nicht. Ich bin -“

„Professor Güldendorf, erster Wissenschaftsoffizier des Zentrums für innere Sicherheit.“ Der Mann stutzte verwirrt. „Wir haben einiges vorzubereiten. Wissen Sie noch, was ich gestern zu Ihnen gesagt habe? Ich brauche mich ja nicht zu wiederholen?“

Güldendorf lächelte: „Nein, du sagtest, du würdest mir alles heute erklären.“

„Also wissen Sie über unsere Situation Bescheid?“

Der Professor nickte. „Und ich bin gespannt,“ sagte er, „welche Aspekte meines theoretischen und technischen Wissens ich heute anwenden kann.“

„Wo ist Hey-du? Ist sie schon wieder verschwunden?“

„Nein, sie schläft noch. Ich wollte nun das Frühstück bereiten und wir können die Zeit dazu nutzen, uns über das weitere Vorgehen auszutauschen. Ich denke, es ist von Vorteil, wenn unsere gemeinsame Freundin nicht allzu viel von ihrer Zukunft erfährt.“

„Das sehe ich ganz genauso!“



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Die Leserin

Die Leserin blinzelte zur Decke. Im ersten Moment überlegte sie, an welchem Urlaubsort, in welchem Hotel sie sich befinden mochte. Erst langsam glitten die Erinnerungen des letzten Tages in ihr Bewusstsein. Das Gästezimmer hätte sich in der Tat an jedem westlich geprägten Ort befinden können. Und dieser Gedanke führte sie in ein morgendliches Grübeln. Sie folgte einem, vom Schlaf und ihren Träumen geprägten Gedankenpfad in einen halbmeditativen Zustand. Im Grunde war sie an überhaupt keinem Ort gestrandet. Sie befand sich noch nicht einmal auf einem Planeten, weder auf der Erde noch auf einem anderen Himmelskörper. War es nicht erstaunlich, wie selbstverständlich man seine Lebensgrundlage für garantiert und für wie unumstößlich man die Naturgesetze hielt?

Jetzt befand sich die Leserin in einer Umgebung, in der andere Gesetze galten. Überhaupt war sogar der Begriff des Gesetzes, wie er in seiner Absolutheit Prozesse in der Natur begreifbar und vorhersehbar machte, hier fehl am Platz. Es gab hier keine Gesetze. Es existierten Wahrscheinlichkeiten, die mit der einen oder anderen Sicherheit eintrafen. Es war höchstwahrscheinlich, dass Arkastas Ruf die gefährliche Zeitspanne einleitete, es war allerdings nicht vorhersehbar, wann sie rief. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sich die Umgebung am Ende der Zeitspanne nicht verändert hatte, aber es war relativ sicher, dass die Städte in einer ähnlichen Anordnung zueinander über die Inseln ragten. Es war höchstwahrscheinlich, dass sich am Anfang der gefährlichen Zeitspanne in der Außenwelt Monster entwickelten, aber es war nicht vorherzusehen, wie sie aussahen und welchen Schaden sie anrichteten. Es war keine Welt, in der sich Leben entwickeln konnte und doch gab es sogar Menschen.


Die simulierten Tagesrhythmen in den städteähnlichen Strukturen der Kugeln gaben den Leuten Sicherheit und Schutz. Warum sich hier jedoch eine Gesellschaft bilden konnte, die seiner eigenen verblüffend ähnelte, war der Leserin nicht begreifbar.

Sie blickte an eine Decke, die mit weißgetünchten Raufasern tapeziert wurde und lag in einem Bett, das aussah, als wurde es in einem schwedischen Möbelhaus erstanden. Neben ihm auf dem Nachttisch stand eine Lampe, die auch in ihrer Wohnung nicht aufgefallen wäre und an der Wand stand auf einem Sideboard sogar ein Fernseher.

Diese sogenannte westliche Konsumgesellschaft, spiegelte sich allerdings nur im kulturellen Aussehen dieser Stadt. Die Liberalität, die man sich in seiner Heimat leisten konnte, schien an diesem Ort nicht zu existieren. Die Stadt war, soweit sie Güldendorf verstanden hatte, technokratisch aufgebaut und streng auf das Wohl der Allgemeinheit ausgerichtet. Mitgefühl, Menschlichkeit und Nachsicht blieben hinter einer kalten Systemlogik zurück.

Die Leserin schaute zum Fenster. Sie hatte gestern die Kippfunktion betätigt und nun bewegte ein leichter Lufthauch die Vorhänge. Doch es war kein Wind, der durch atmosphärische Druckunterschiede entstand, der für die Bewegung verantwortlich war. Obwohl alles in dem Raum seiner Welt entstammen konnte, war der Ausblick hinter diesen Vorhängen mit keiner Stadt auf der Welt zu vergleichen.


Es klopfte.

„Ich bin wach!“, rief Hey-du zur Tür.

„Ich stelle das Frühstück zusammen, aber lassen Sie sich Zeit.“ Die Stimme des Professors drang gedämpft durch das Türholz. „Das Badezimmer ist frei und ich habe eine Gästezahnbürste auf die Ablage gestellt. Sie brauchen Sie nur aus der Folie holen.“


Wenig später saßen die beiden in der Küche, in der sie sich schon am Vortag unterhalten hatten und wie gestern auch, betrachtete die Leserin gebannt die kleine Maschine, die das gewählte Essen aus einer der Automaten in der Vorhalle des Hochhauses in die Wohnungen transportierte.

„Die Frühstücke lassen sich gerade nicht wählen. Es gab einen Fehler im Zentralrechner. Aber es gibt immer zwei Brötchen, Marmelade, Wurst, Käse und geröstete Zuckerspinnencreme. Es ist also für jeden etwas dabei. Was sie nicht mögen, lassen Sie einfach über. Die Reste kommen in einen luftdichten Behälter “, er deutete auf eine Klappe in der Wand. „Und werden von diesem Leitsystem in die Kompostieranlage transportiert. Es wird als nichts verschwendet. Eier gibt es leider nicht. Die bekommen wir nur Sonntag.“

„Ach, warum das denn? Sagen Sie jetzt nicht wegen des Cholesterins? Ich habe letztens erst gelesen, dass das gar nicht stimmt.“

„Naja, Cholesterin beeinflusst schon die Gefäße, aber es liegt wohl am gesamten Ernährungskonzept und nicht ausschließlich an den Eiern. Aber das ist nicht der Grund. Es gab eine seltsame Vogelkrankheit vor einiger Zeit und ein Großteil unseres Geflügels musste gekeult werden. Jetzt muss sich der Bestand erholen.“

„Ach, hier gibt es Nutztiere?“

„Selbstverständlich! Die Stallungen und Weideflächen sind auf der dritten Ebene. Im Gegensatz zum Getreide, lassen sich tierische Produkte nicht so einfach im Labor herstellen.“

„Wie viele Einwohner hat diese Stadt? Und wie viel von dem Nutzvieh wird zur Versorgung gebraucht?“

„Wissen Sie was? Ich werde Ihnen ein Gerät zur Verfügung stellen. Dann können Sie einen kleinen Streifzug in der Umgebung unternehmen und der Apparat, erklärt Ihnen alles, was Sie wissen müssen. Halten Sie sich aber auf den vorgeschriebenen Wegen und umgehen Sie patrouillierende Behörden. Ich habe das Gerät modifiziert und es gibt eine Warnung, wenn sich ein Polizist nähert.“

„Das könnte mich in der Tat interessieren. Vielen Dank für den Vorschlag.“

„Und wenn Sie sich schon auf einen kleinen Spaziergang begeben, könnten Sie die beiden Flugrelais mitnehmen, die auf der Ablage im Flur liegen? Zwei Straßen weiter wohnt ein Kollege von mir, dem ich sie schon vor einiger Zeit in den Briefkasten werfen wollte.“

„Das lässt sich einrichten. Wo ist eigentlich B05?“

„Der wollte sich noch ein wenig ausruhen. Ich denke, wir müssen ohne ihn frühstücken.“


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B05/49

„Du kannst rauskommen, sie ist weg.“ Die Stimme des Professors erklang durch die Wohnung.

„Das brauchen Sie nicht zu betonen. Ich habe gehört, wie Hey-du sich verabschiedete. Vor ungefähr 2, 37856 Minuten fiel die Tür ins Schloss. Dann sind die Schritte im Treppenhaus nach ungefähr 12,4328 Sekunden verklungen und den Rest der Zeit so denke ich, hat meine Freundin auf den Fahrstuhl gewartet. Ein sehr langsamer Fahrstuhl, wie man meinen könnte.“ B05 schlingerte in Richtung Küche. „Allerdings habe ich die Strategie, mit den Flugrelais nicht verstanden.“

„Keine Sorge“, nicht ohne Erstaunen stellte B05 fest, dass die tiefe Stimmfrequenz, die der Gelehrte für seine Worte benutzte, sogar auf die Maschine eine beruhigende Wirkung hatte. „Das Appartement, zu dem ich deinen Begleiter geschickt habe, existiert nicht. Es gibt nicht einmal den Wohnblock, in dem sich diese Wohnung befinden soll. Er hat also überhaupt keinen Anhaltspunkt, was er mit den Relais machen soll. Und nach dem, was ich von meiner Frau, einer großen Menschenkennerin, gelernt habe, wird der Großteil der anständigen Leute, anvertraute Güter nicht irgendwo in der Wildnis entsorgen, wenn sie den Adressaten nicht finden. Er wird sie also bei sich behalten und später, bzw. in deiner Vergangenheit, zur Verfügung haben.“

B05 kurvte in die Küche.

„Wie sieht das denn hier aus? Was sollen der ganze Müll und die Essensreste auf dem Tisch?“

Die buschigen Augenbrauen des Professors zogen sich zusammen. „Du hast noch nie einem menschlichen Frühstück beigewohnt?“

„Doch. Ich habe das Essen erlegt gesammelt und zubereitet und der Mensch hat es verspeist. Da gab es kein ausgebreitetes Chaos auf eine Abstellfläche. Wozu soll das gut sein?“

Der Professor räumte die Teller zusammen und kratzte die Reste in den Müllschlucker an der Wand. „Ich bin mir sicher, es hat keinen Sinn dir den Begriff der Gemütlichkeit zu erklären. Ich könnte natürlich jetzt etwas über die menschliche Psychologie erklären und es wäre für dich nachvollziehbar werden, doch das genau Motiv für diesen Zustand ist halt ein urmenschliches. Und in gewisser Hinsicht kann ich dich sogar verstehen. Ein Gefühl des Wohlbehagens zwischen Brötchenkrümel, Käseresten und Kaffeeflecken zu bekommen ist aus analytischer Sicht schwer nachzuvollziehen.“

„Gut, fangen wir an?“

„Ich muss mir nur noch meine Uniform anziehen und dein Flugrelais wechseln. Du schlingerst schon ganz schön und deine Fluggeräusche sind etwas holprig. Hast du das Gespräch, das ich morgen mit der Obersten führen werde aufgezeichnet?“

„Aber gewiss!“

„Perfekt, so ist es einfacher, auf ihre Reaktionen zu reagieren. Dir ist aber bewusst, dass ich in dieser Aufzeichnungen meine Redebeiträge nicht sehen darf. Andernfalls blickte ich in die Zukunft und ich weiß nicht, welche Auswirkungen das auf Menschen hat, die sich außerhalb des X-Feldes befinden.“

„Noch etwas?“

„Ja, wenn wir fertig mit der Aufnahme sind, muss ich sie verschlüsseln. Ich brauche dazu ein Stichwort.“

„Sie bekommen von mir den letzten Satz, den die Oberste sprach, als sich der Countdown aufbaute. Ach, und...“

Der Professor forderte den Roboter auf, weiterzusprechen. „Sie müssen morgen mein Übergabeprotokoll in die Wege leiten. Ich nenne Ihnen die genaue Uhrzeit dazu.“

„Bitte“, Güldendorf lachte. „Die ungenaue Uhrzeit reicht vollkommen.“

„Nun gut, reichen drei Zeichen hinter dem Komma.“

„Es gehen sogar ganze Zahlen.“

„Aber das macht einen gewaltigen Unterschied!“

„Glaube mir, das wird keiner bemerken. Wir Menschen sind im Grunde sehr einfach gestrickt.“

„Was passiert nach der Aufnahme?“

„Dann gebe ich dir zwei weitere Relais für deine Zukunft mit und du wirst dich dann auf die Suche nach Hey-du begeben. Du wirst mit ihm einen Unterschlupf suchen, der an seine Zukunft anschließt und früh am nächsten Tag die Behörden verständigen. Es sollte besser sein, wenn du das erledigst. Selbst, wenn ich meinen geheimen Kommunikationskanal benutze, ist es sicherer, wenn die Anzeige von einer mobilen Station ausgeht.“

„Dann wird das so gemacht. Es war übrigens nett, sie kennengelernt zu haben.“

„Das gebe ich zurück.“



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Die Leserin

Auf dem ersten Blick wirkte der Ort zwar ungewöhnlich, aber nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls tat er das, solange man nicht zum Horizont aufschaute. Wie gestern erstaunte die Leserin die Architektur der Hochhausanlagen, die sich in eine schwindelnde Höhe erhoben und in 200 Metern an die Decke der Ebene stießen. Es machte den Eindruck, als wären sie nicht nur für die Wohnungen der Bewohner der Kugelstadt errichtet worden, sondern darüber hinaus noch für ihre Statik verantwortlich. Die im Schachbrettmuster angeordneten Straßenverläufe, waren ihm gestern nicht sonderlich aufgefallen, jetzt halfen sie ihm bei der Orientierung. Ein Blick aus den Fenstern in der Wohnung des Professors ließ ihn die Struktur der Stadt erraten. Jedes einzelne Hochhaus enthielt weit über 60 Stockwerke, die augenscheinlich auf der gesamten Ebene den gleichen Aufbau hatten. Von der Eingangshalle mit den Glasfahrstühlen gabelte sich der Flur und führte in beide Richtungen zu den vier Wohnungen, die sich gegenüber lagen. Auf jedem Stockwerk befanden sich demnach acht äußerst geräumige Appartements.

In einem von den Straßen begrenzten Quadrat bildeten jeweils vier der Hochhäuser eine Einheit. Sie umschlossen eine kleine Anlage mit einem Spielplatz. Das sagte zumindest der Blick aus dem Fenster des Professors, der nach dem Innenhof ausgerichtet war. Aus dem 12. Stock ließen sich die Details gut erkennen und der Leserin fragte sich, ob das aus dem 60. Stockwerk noch ebenso möglich war. In seiner Welt hätte der Hof durch den Schattenwurf der Hochhäuser in einer ständigen Dämmerung liegen müssen, doch es gab hier keine natürlichen Lichtquellen, die über den Himmel wandelte. Die gesamte Fläche der Ebene war durch die Deckenbeleuchtungen gleichmäßig erhellt und ein problematischer Schattenwurf, der beispielsweise zu strengen Bauauflagen in New York im frühen 20 zigsten Jahrhundert geführt hatte, waren an diesem Ort nicht vorhanden.

Die Leserin stöpselte die Kopfhörer in ihre Gehörgänge, schaltete das Gerät ein und eine Computerstimme schnorrte in ihr Ohr. Sie begrüßte sie als Abenteurer und kündigte an, nein, besser drohte, sie durch die Stadt führen zu wollen. Sie schaffte es jedoch lediglich bis an die übernächste Straßenkreuzung, dann betätigte sie den Stoppschalter. Die Erzählkunst des Gerätes war kein wirklicher Genuss. Sie war so damit beschäftigt, sich nicht von dem monotonen Gesäusel einschläfern zu lassen, dass sie kaum den Worten folgen konnte. Stattdessen versuchte sie, auf eigene Faust herauszubekommen, wie die Stadt funktionierte.

Die Stadt mit den Wolkenkratzer, besser Deckenkratzer, war in vier mal vier dieser Quadrate aufgeteilt. Es ließ sich also theoretisch hochrechnen, wie viele Wohnungen diese Stadt enthielt. Aber Hey-du hatte keine Lust, sich damit zu beschäftigen. Das überließ sie B05.

Zwischen den Quadraten verliefen Straßen, die man nur mit viel wohlwollen so nennen konnte. Sie waren zwar relativ breit, der Leserin schätzte sie auf zehn Meter, aber sie wirkten zwischen den Häusern wie enge Gässchen und obwohl sie gut beleuchtet waren, haftete ihnen etwas Dunkles und Klaustrophobisches an. Autoverkehr gab es nicht und die Straßen waren erstaunlich leer, selbst, wenn man bedachte, dass der Morgen schon recht weit fortgeschritten und ein Großteil der Bevölkerung wohl auf der Arbeit oder in der Schule war. Der Professor hatte gestern einige seiner Fragen beantwortet und Hey-du meinte, sich zu entsinnen, dass dieser Ort und ebenso die Etage unter dieser Fläche nur für Wohn- und Erholungszwecke genutzt wurde und bis auf wenige Ausnahmen, die mit der Instandhaltung, Wartung, Pflege der Umgebung und Sicherheit zusammenhingen, alle Einwohner in anderen Ebenen zum Einsatz kamen.

Sie erreichte den Park, der sich leicht bewaldet über grüne Hügel bis zum Rand der Kugelwand durch die Äste. Man konnte sich einreden, man sähe die blauen Dunstschwaden an den Fenstern vorbeiziehen, doch das war physikalisch nicht möglich. Die Leserin wunderte sich augenblicklich über diesen Gedankengang, denn langsam sollte sie doch begriffen haben, dass physikalische Gesetze in dieser Umgebung eine andere Gewichtung hatten.


Sie wanderte die Wege über die Hügel entlang, ließ sich von dem Bächlein führen, das in moderater Entfernung die Wohnanlage umschloss, überquerte eine der kleinen Holzbrücken und schlenderte zu den Außenfenstern. Dort stießen in regelmäßigen Abständen hochhausartige Gebilde an die Decke und auch hier vermutete der Mensch einen statischen Zweck. Das Gebäude, das in gut 500 Meter Entfernung von ihm stand, schmiegte sich an die Glasfläche, besaß also eine leicht gebogene Grundfläche. Es schienen nicht für Wohnzwecke gebaut zu sein, sondern wirkte ohne Vorhänge und ohne die Bepflanzungen auf den Fensterbänken, wie ein Bürokomplex, ein Krankenhaus oder eine Polizeiwache.

Die Leserin entschloss sich, in die Stadt zurückzukehren.

Sie war bereits länger Zeit unterwegs gewesen und vernahm, wie ihr Magen sein Recht verlangte.

Sie wusste nicht so recht, wo er hier etwas zu Essen erwerben sollte, denn es schien auf der gesamten Ebene kein Restaurant oder einen Imbiss zu geben.

Obwohl sie der ganzen Zeit versuchte, den Bewohnern aus dem Weg zu gehen, war sie fast erleichtert, als ihr ein junger Mann auf einem Roller entgegenkam. Diese Scooter, die überall herumstanden, waren augenscheinlich das Hauptverkehrsmittel.

„Entschuldigung?“

Der Mann stoppte und sah die Leserin auffordernd an.

„Wissen Sie, wo ich hier irgendwo Essen gehen kann? Gibt es hier ein Restaurant oder ein Café?“

Die Augenbrauen des Mannes zogen sich zusammen.

„Was wollen Sie?“

„Ich möchte gerne Essen gehen.“

Der Mann verstand immer noch nicht. Das Kopfschütteln war nur angedeutet. „Sie haben Hunger oder wie meinen Sie das?“

Die Situation war der Leserin so fremd, dass sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. „Also, wenn Sie Hunger haben“, hörte sie den Mann fortfahren. „Der nächste Lebensmittelautomat steht gleich hinter der nächsten Ecke.“

„Ich wollte mich eigentlich irgendwo hinsetzen.“

„Bänke sind im Park!“

„Und Kleingeld für einen Automaten habe ich auch nicht.“

„Was? Sagen Sie mal, Sie sind ja augenscheinlich nicht von hier. Können Sie sich ausweisen?“

Der Leserin lief ein Schauer über den Rücken. „Oh, ich habe meinen Ausweis – „

„Natürlich“, der Mann stieg vom Roller und griff in seine Jackentasche. „Dann warten Sie bitte einen Moment, bis mir meine Kollegen gesagt haben, was ich mit ihnen anstellen soll. Wo wohnen Sie denn?“ Der Mann holte etwas aus seiner Tasche, das den Charme eines Mobiltelefons der neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ausstrahlte, nur etwas kleiner als ein Funkgerät. Hey-du spürte, wie sich die Panik durch ihre Gehirnwindungen wühlte und die Schalter umlegte, die ihren Körper automatisch in Bewegung setzten. Sie trat gegen den Scooter, der scheppernd umkippte und rannte der nächsten Ecke entgegen. Lediglich das unaufgeregte „Hey!“ des Polizisten verfolgte ihn. Als er in die Straße einbog, die durch die Häuserschluchten führte, bemerkte sie, dass der Polizist keine Anstalten machte, die Verfolgung aufzunehmen. Aber das war kein Anlass das Tempo zu verringern.

Ziellos rannte die Leserin durch die Gassen und irgendwann wurde ihr die Absurdität des Unterfangens bewusst. Wenn sie vor der Polizei fliehen wollte, sollte sie sich möglichst schnell einen Ort suchen, an dem sie sich verstecken konnte.

Tausend Fragen marterten sie. Sollte sie zurück zu dem Professor oder zu dessen Bekannten, dem er die Relais zu überbringen hatte? Brachte er dadurch seine Freunde nicht in Gefahr? Gab es innerhalb der Gebäude Stellen, die wenig frequentiert und deshalb für einen Moment Sicherheit gaben? Aber vielleicht waren das sogar die Orte, an denen die Polizei verdächtige Personen zuerst suchte? Überhaupt, warum sollte er eine Gefahr für die Ordnung dieses Systems darstellen und wieso hatte er den Polizisten als solchen nicht erkannt? Güldendorf hatte doch auf das Gerät hingewiesen, das ihn warnen sollte, wenn sich jemand von den Behörden näherte.

Abrupt blieb Hey-du stehen und klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. Sie suchte einige Schritte Schutz im Eingang eines Gebäudes und drückte auf den Startknopf des Gerätes, dass sie wegen der nervigen Computerstimme ausgestellt hatte. Es war nicht nur ein Audioabspielgerät, sondern hatte ein Display, dass sich durch Berührungen navigieren konnte. Nach einer kurzen Zeit des Herumexperimentierens baute sich ein Stadtplan auf dem Bildschirm auf. Wenn sie die Bewegungen der winzigen Punkte richtig deutete, die sich aus einigen Gebäude am Rand der Ebene auf das Wohngebiet zubewegten, war sie in ernsthaften Schwierigkeiten. Die Punkte bewegten sich unaufgeregt, aber stetig auf sie zu und zwar von allen Seiten.

Sie schreckte zusammen, als dicht neben sich eine Sirene vernahm. Reflexartig löste er den Blick vom Display und schaute in die Scheinwerfer eines Erkundungsroboters: „Mensch, Mensch, Mensch! Hey-du! Was machst du wieder für Sachen?“

Die Leserin atmete aus. „Was bin ich froh, dich zu sehen. Ich habe großen Bockmist veranstaltet und nun werde ich gesucht und ich weiß nicht, was ich machen soll.“

„Aber ich! In dem Haus in deinem Rücken ist gestern ein Mann gestorben. Die Todesursache ist dem Professor unbekannt und auch das Alter-“

„B05?“

„Gut, also die Wohnung ist noch nicht zu betreten, aber unser Professor hat einen hohen Rang und hat deshalb einen Generalschlüssel. Das ist etwas, was ich äußerst gruselig finde, wenn man bedenkt, dass der Professor im Grunde viel subversivere Ziele verfolgt, als wir, die wir uns nur mal in der Stadt umschauen wollten.“

„B05, ich unterbreche dich nur ungern, aber-“

„Na, jedenfalls können wir eine Nacht dort verbringen und dann passiert in deinem Morgen, was halt passieren muss.“

„Die Polizei wird in wenigen Sekunden hinter der Ecke dort drüben auftauchen und uns-“

„Also, worauf wartest du noch! Rein da!“

Und als sie unaufgeregt, aber zügig in den Eingangsbereich des Hochhauses traten und ein Zug von Beamten mit schwerer Bewaffnung auf ihren Rollern in die Straße einbogen, richtete B05 das Wort an seine Gefährtin.

„Wir haben uns versprochen, nichts über die Zukunft zu verraten, und das werde ich auch weiterhin nicht tun. Aber ich muss dich um eines bitten, denn es könnte für dich morgen verstörend wirken. Ich bin und ich bleibe auf deiner Seite, egal, wie seltsam ich mich morgen verhalten werde. Du musst mir vertrauen! Nur so kommen wir hier unbeschadet aus der Stadt.“

„Klar! Wir hängen hier zusammen fest und haben beide die Absicht heile herauszukommen.“

Der Erkundungsroboter führte Hey-du zu dem Fahrstuhl, der sich an der gleichen Stelle befand, wie im Hochhaus des Professors.

„Das ist wohl so und deshalb musst du mir etwas versprechen!“

„Was denn?“

„Wenn dein letzter Tag in der Kugelwelt angebrochen ist und ich mich derart seltsam verhalte, dass du mir auf gar keinen Fall vertrauen darfst, musst du mir eine Frage stellen.“

„Ich höre!“

Der Fahrstuhl öffnete sich.

„Du musst mich fragen, was ein X-Turn ist. Das ist wichtig, hörst du.“

„Aber du weißt doch was ein X-Turn ist!“

„An dem letzten Tag deiner Reise weiß ich es nicht.“

Die Leserin nickte und betrat, begleitet von ihrem fliegenden Freund, den Lift. Sie schwiegen, als die Fahrstuhltür vor die Eingangshalle glitt.



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©2019 Claudia Roman - Autorin. Erstellt mit Wix.com

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