top of page

Kapitel 1 oder 12 – Im Anfang und am Ende leuchtet das Wort.

  • Autorenbild: claudia_roman
    claudia_roman
  • 1. Dez. 2020
  • 22 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Mai 2024


ree

Die Leserin

Gleich nachdem die Leserin das Buch aufgeschlagen hatte, wurde ihr bewusst, dass es keine Geschichte war, die sie so schnell wieder loslassen sollte.

Bereits der erste Satz schlug wie ein Blitz in ihren Kopf:


„Gleich nachdem die Leserin das Buch aufgeschlagen hatte, wurde ihr bewusst, dass es keine Geschichte war, die sie so schnell wieder loslassen sollte.

Bereits der erste Satz schlug wie ein Blitz in ihren Kopf:

‚Gleich nachdem die Leserin ...‘“


Was, bei allen Göttern, war das?

Sie kam sich vor, als stünde sie zwischen zwei Spiegeln, die alles was sie umgab hin und her warfen, den Raum verdichteten und ihn gleichsam in die Länge zog, bis sich schließlich das stetig wiederkehrende Bild in einer unendlichen Tiefe am oberen Spiegelrand verlor.

Die Worte, die vor ihrem Blickfeld flackerten und von denen sie sich nichts weiter als eine nette Zerstreuung für ein paar Augenblicke erhofft hatte, malten keine Bilder in ihre Vorstellung. Sie zeichneten nicht bloß die Illusion einer Realität.

Sie wurden die Realität.

Sie wurden ihr Erleben.

Sie wurden ihre Wahrheit.

Sie rissen sie in die Tiefe der rekursiven Spiegelung, die sich mit allen Sinnen erfahren ließ.


Der Wind, der ihr durch den Fall entgegenkam, zerrte an ihren Kleidern und strich über ihre Haut.

Vor ihr, mit ausgebreiteten Armen und einem vor Verwirrung verzerrtem Gesicht, stürzte sie ihrem Spiegelbild entgegen.

Und dahinter fiel die etwas kleinere Kopie ihres Körpers

und dahinter eine Weitere

und eine Weitere,

bis alle ihre Abbilder immer dichter zusammenrückten, sich in einer Spirale verdichteten und in der Dunkelheit verloren.


Ihr kam es vor, als brannte ihre Existenz ein Loch durch die Seiten und sie sauste an den dünnen Papierschichten vorbei, die einem, von unsichtbaren Fingern bewegten Daumenkino gleich, zum Leben erwachten. Es wechselte Licht mit Schatten und Schatten mit Licht und nichts gab ihren Augen Gelegenheit, an etwas haften zu bleiben.

Es war ein eigenartiger Geruch, der aus der Tiefe zu ihr hinauf strömte. Es roch leicht sumpfig, wie eine Mischung stehendem Wasser und faulendem Holz. Und zu diesem warmen Hauch gesellte sich etwas abweisend Unorganisches: verrostetes Eisen, halb getrockneter Zement und geschmolzener Stahl. Eine Brise trug das Aroma einer ausgeblasenen Kerze mit sich und ein anderes erinnerte die Leserin an frisch geschweißtes Metall.


Die Buchseiten, an denen sie vorbeirauschte, erzeugten ein Flattern in ihren Ohren, wie von einer Fahne, die den Kräften eines Sturmes ausgeliefert war. Es klang wütend, fast bedrohlich und wurde schließlich von einem Ton überdeckt, der sich aus dem Abgrund wühlte, wie die kalte Klaue einer Leiche aus ihrem Grab. Er erfüllte den Raum wie ein Nebelhorn und zog den Körper der Leserin mit wachsender Dringlichkeit zu sich.


Kaum war der Ruf verstummt, endete der Fall mit einem Schlag. Kein Aufprall stoppte sie, keine Stoßkräfte trieben sie voran. Ihr war, als ob sich ihre Füße nie vom Boden gelöst und sie ihn schlicht für einige Zeit vergessen hatte.

Es war keine undurchdringliche Finsternis, die sie umschloss. Das wäre der falsche Ausdruck für das Nichts gewesen, in dem sie sich befand.

Die Dunkelheit verbarg nichts, denn es gab nichts, zu verbergen. Das, was der Raum beinhaltete, lag wenige Schritte vor ihr gut sichtbar in der Schwärze. Es war eine Tür. Eine schlichte Holztür ohne Schnörkel, ohne Versätze, ohne Verglasungen.

Die Leserin verbrachte die ersten Sekunden damit, auf dieses einzige Objekt zu starren, das in dieser Umgebung zu existieren schien. Auch als sie sich umzusehen versuchte, wanderte die Tür mit und bildete stets das Zentrum ihrer Blickrichtung.


Eine deutliche Aufforderung, entschied sie und sie trat dem hölzernen Zugang entgegen. Sie hoffte insgeheim, dass sie, wenn sie die Klinke drückte und durch den Rahmen trat, die Augen aufschlagen konnte, ihre warme, weiche Matratze unter sich spürte und gegen die weiße Decke ihres Schlafzimmers schauten.

Allerdings fühlte sich hier alles so real an, wenn auch ein wenig surreal, dass sie es insgeheim für reines Wunschdenken hielt.

Vor der Tür angekommen, blinzelte sie durch das Schlüsselloch. Nichts war dort zu erkennen. Alles dahinter wurde von einem blauen Nebel verschluckt.

Der Leserin gab sich einen Ruck und ergriff die Klinke.



ree

B05/47

B05/47 wartete auf die Ankunft der Leserin.

Er war nicht überrascht gewesen, dass er zwar in einem Unterschlupf in den Arbeitsmodus hochfuhr, der dem ähnelte, in den er sich im letzten Zyklus zur Ruhe begeben hatte, aber diesmal war es anders. Er wusste: Die Leserin hatte die Kugelwelt noch nicht betreten. Hier, am letzten Tag seiner Reise, sollte sie für den Menschen beginnen.


Er hatte es sich nicht nehmen lassen, seine Freundin mit einer kleinen Überraschung zu begrüßen. Er hoffte ihr den Anfang der Reise dadurch ein wenig einfacher zu machen. Er hatte sich einen Gegenstand ausgesucht, der entfernt an einen Tisch erinnerte. Zwar war die Tischplatte von einem unregelmäßigen Wellenmuster durchzogen und die zwölf Beine, die sie über den Boden hielten, hatten unterschiedliche Längen, aber der Roboter hatte eine Decke über die Fläche ausgebreitet, die die Unebenheiten ausglich. Er konnte die vier längsten der zwölf Beinen in den Untergrund rammen, so dass der Tisch halbwegs stabil stand. Er hatte Beeren gesammelt und sie in einer Art feinmaschigem Sieb in die Mitte des Tisches gestellt. Er musste das Sieb zunächst mit seinem Waffenarm abflämmen, denn die Analyse des Wassers, aus dem er diesen Gegenstand herausfischte, hatte einige für Menschen schädliche organische Verbindungen ergeben, die sich aber leicht durch Hitze abtöten ließen.

B05 blickte sich um, musterte die Umgebung und stellte sich vor, wie sie wohl auf einen Menschen aus einer anderen Dimension wirken könnte.

Ein im Grunde unsinniges Projekt. Denn abgesehen von der Tatsache, dass es für ihn als Maschine nicht vorgesehen war, sich in etwas hineinzuversetzen, benötigte man zumindest valide Parameter, um die Wahrscheinlichkeiten für emotionale Reaktionen komplexer Organismen, wie beispielsweise eines Menschen, vorherzusagen. Die Sache mit dem Nachempfinden schob B05 dann auch schnell beiseite, doch die Berechnung der unterschiedlichsten Wahrscheinlichkeiten, um auf die Reaktion seiner zukünftigen Begleiterin vorbereitet zu sein, waren für den Erkundungsroboter einfach zu reizvoll. Vielleicht kam der Mensch aus einer Welt, die der Kugelwelt in den meisten Punkten glich, aber die Farbe des Dunstes war nicht blau, sondern rot. In diesem Fall hielt sich das Erstaunen des Menschen in Grenzen. Es könnte jedoch ebenso zutreffen, dass er aus einer Welt kam, in der die Umgebung aus mehr als einer Farbe und ihren unterschiedlichen Schattierungen bestand. So eine Umgebung wäre vergleichbar mit den Lichtverhältnisse innerhalb der Kugelstädte. Vor den Augensensoren schob sich eine Umgebung vor die Realität, die er gerade von seinem Prozessor errechnen ließ.

Über die bauen Nebelschwaden, die eine zerklüftete, vegetationsarme Gegend umschlossen, über die Bergen aus getürmten Metall, Beton und Schutt legte sich eine Projektion von Bäumen, grünen Hügeln und gewundenen Wegen. Die brauen Wasserflächen, die die Schrottinseln umspülten, wurden zu Seen und kleinen Bächen, die ein Licht spiegelte, das all jene Wellen des elektromagnetischen Spektrums enthielt, das für das Auge eines fiktiven menschlichen Betrachters wahrnehmbar war.

Allerdings stellte sich genau dieses Licht bald als ein mathematisch-logisches Problem heraus. Es hätte oberhalb der unendlichen Ausdehnung der Welt platziert werden müssen und so die Unendlichkeit nach oben hin eingeschränkt. Es war nicht so, dass es nicht berechnet werden konnte, im Gegenteil: Grenzen machten mathematische Prozesse viel überschaubarer. Es lief allerdings der Basiseinstellung seiner Programmierung entgegen.

B05 war klar, dass er sich einer Tagträumerei hingab und so versuchte die Wartezeit zu überbrücken. In den letzten Zyklen war er hin und wieder ungeduldiger gewesen, als es für ihn vorgesehen war und er fühlte, wie die Reise seine Schaltkreise veränderte.

Er war eine lernende Maschine und dieser Effekt war durchaus vorgesehen, allerdings glaubte B05 in keiner Weise, dass sich sein Programmierer über die Massivität der Veränderungen, die ihn innerhalb eines X- Feldes zum Freund eines Menschen machten, im Klaren gewesen war. Er war zu einem Wesen mit Empfindungen geworden. Natürlich hinkten diese Empfindungen immer noch hinter der Komplexität menschlicher Gefühlsregungen her, aber er war nun kein besserer Taschenrechner mehr.

Jetzt beispielsweise, in diesem Augenblick, begriff er, dass er den kleinen Tisch, über den er seinen Kugelkörper fliegen ließ, nicht allein aus Berechnung hergerichtet hatte. Natürlich durfte er die Leserin nicht so verschrecken, dass sie in eine Schockstarre verfiel und nicht mehr in der Lage war zu handeln. Das wäre sicherlich fatal. Der aktuelle Zyklus war noch nicht lange aktiv und es konnte noch viel passieren. Es hing alles mit der Reaktion seiner menschlichen Begleiterin zusammen und mit ihrer Bereitschaft, die Situation zu akzeptieren. Wenn ein paar Beeren die Sache vereinfachte, war es umso besser. Aber das war es nicht alleine. Er wollte den Menschen, den er in Zukunft immer nur „Hey-du“ nennen sollte, den schwierigen Übergang von der einen in die andere Dimension so leicht wie möglich machen. Ohne zu viel verraten zu dürfen, dachte der Erkundungsroboter an seinen Anfang und wie ungerecht er sich seiner Freundin gegenüber verhalten hatte. Aber das lag in seiner Vergangenheit und musste dort verharren.

Der Tisch stand am Rande einer Schuttanhäufung. Sie war zwar nicht sonderlich hoch, wirkte aber nur bedingt vertrauenswürdig. An ihrer höchsten Stelle ragte eine Tür wie ein Monolith in die Höhe. Sie wurde von keiner Wand gehalten und schien auch nirgendwo hinzuführen. Doch aus den Rändern, die die Holzfläche vom Rahmen trennte, drang nun schon eine ganze Weile ein heller Schein.

Das Licht veränderte seine Intensität und es kam dem Roboter vor, als sei es das Licht selbst, das irgendwann die Tür aufstieß.



ree

Die Leserin

Die Leserin hatte nicht die Spur einer Ahnung, was sie mit den Eindrücken anfangen sollte, die hinter der Tür auf sie wartete. Sie bemerkte, wie sie eine angenehme Wärme umschloss und sie wagte einen vorsichtigen Schritt. Der Berg aus Schrott und Gerümpel, auf den sie nun trat, bot ihr kaum Halt. Ein feiner, rauchiger Nebel, zog in wechselnder Dichte an ihr vorbei, war jedoch nie so undurchdringlich, dass er die Sicht komplett verdeckte. Er verschluckte lediglich die Weite und gab allein die Schemen der Anhöhen frei.

Die hügelige Landschaft, wenn man sie denn überhaupt als Landschaft bezeichnen wollte, bestand aus Gerümpel und Metall und bildete kleine Inseln, die von dunklem Wasser umgeben waren. Das Gehirn der Leserin suchte verzweifelt nach einer ihr vertrauten Umgebung, mit der sie vergleichen konnte, was sich vor ihren Füßen ausbreitete.

Sie konzentrierte sich auf einzelne Gegenstände und vereinzelt ließen sich ihre ehemaligen Funktionen erraten. Es waren Kanister oder andere Behälter, Flechtwerk und Stoffreste, aber auch Schaltkästen, Autowracks und Stoffreste. Auffällig war die Anzahl der Türen. Sie waren in allen möglichen und unmöglichen Größen aus vielen erdenklichen Materialien über die Hügel verteilt. Von massiven Stahltüren, bis hin zu winzigen Glastüren standen oder lagen sie, fest in ihren Rahmen verankert, halb geöffnet oder zerbrochen in der Umgebung.

Andere Objekte machten den Eindruck, als sei ihr Verwendungszweck offensichtlich, um sich bei näherem Hinsehen in etwas gänzlich Fremdes oder Unnützes zu verwandeln. So lag, nicht weit von ihren Füßen entfernt, ein Apparat, der haargenau wie ein alter mit Stoff überzogener Telefonhörer aussah. Allerdings hielt die Leserin ihn bei genauerer Betrachtung nicht für den Gebrauch geeignet, dann nämlich, als sie die feinen Nadeln erkennen konnte, die aus dem Überzug hinausragten. Einige Meter vor ihr irritierte sie eine Brücke aus Stahl, die zwei Inseln miteinander verband. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, dass sich in der Hälfte des Konstruktes ein Knoten befand. Es war nicht nur das Metall, das sich zu einer Verdickung verformt hatte, die Lauffläche war in der Tat einmal in sich selbst verschlungen.

Ein weiterer Gegenstand, mit dem sie nichts anfangen konnte, war ein Gebilde, das sich in der Entfernung nur noch als detailloser Schatten wahrnehmen ließ. Es war eine Kugel, die scheinbar über den Boden schwebte. Die Leserin konnte nicht einschätzen, ob sie tatsächlich schwebte, oder wie ein Heißluftballon von dünnen Drähten über den Boden gehalten wurde, allerdings wirkte sie derart schwer und klobig, dass sie wie eine schlechte Retusche in die Welt hineinkopiert wirkte.

Um dieses komplett verrückte Bild zu komplettieren, bemerkte die Leserin nur wenige Meter unter sich am Rand des Hügels einen kleinen Tisch. Die Tischfläche wurde von unzähligen Beinen gehalten, von denen der größte Teil verbogen und nutzlos über den Boden hing. Sie war mit einem verzierten Stoff überdeckt, die sich in einem pastellnen Violett von der Umgebung abhob. Auf dem Tisch, der, trotz des zerklüfteten Untergrunds und seiner eigenartigen Beschaffenheit, stabil zu stehen schien, befand sich eine Blechschale mit Früchten. Sie wirkten wie eine Kreuzung aus Kirschen und Blaubeeren und hatten die Größe von Wildäpfeln, die kleiner und asymmetrischer waren, als die, die man üblicherweise in den Supermärkten kaufen konnte. Lange zum Teil zusammengewachsene Stängel wuchsen an ihrem Scheitelpunkt aus einer Vertiefung und ihr gegenüber konnte die Leserin noch die Reste der Blüte erkennen. Ob die Früchte tatsächlich schwarz waren oder im Licht nur so wirkten, konnte sie nicht sagen. Aber sie verschwendete nicht allzu viel Zeit mit diesen Gedanken, denn sofort wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Metallkugel gelenkt, die über dem Tisch flog und eine Melodie spielte.

Es dauerte eine Weile, bis ihr schließlich bewusst wurde, warum sie die Tonfolge an eine orange Maus und einen blauen Elefanten erinnerte. Die ganze Situation so absurd, dass sie sich weigerte, irgendetwas davon in einen logischen Kontext einzuordnen. Auch wenn es sich nicht so anfühlte, was sollte das hier anderes sein als ein Traum?

„Okay!“, hörte sie sich sagen. „Das ist wirklich eine der abgedrehtesten Phantastereien, die sich mein Kopf je zusammengesponnen hat. Ich bin fast stolz auf mich. Was für ein Stoff für einen Roman! Allein dieser Spiegelschacht, durch den ich gefallen bin. Alice im Wunderland kann einpacken!“

Die Musik, die aus den Lautsprechern des Fluggerätes drang verstummte für eine Weile. In dieser Zeit waren andere Geräusche zu vernehmen: Das Plätschern von Wasser, bewegtes Metall, das seine Echos über die Hügel schickte und ein Knistern, das wie ein elektrischer Funkenschlag von weit her zu kommen schien.

Zugleich bemerkte die Leserin diesen eigenartigen Geruch. Er war nicht intensiv, jedenfalls nicht so intensiv, wie es die Umgebung, die aus trübem Wasser und verrottenden Gegenständen bestand, zunächst vermuten ließ. Es roch wie eine, leerstehende Fabrikhalle, nach Stahl, Farbe, kaltem Rauch, stehender Feuchtigkeit, vermischt mit einer dezenten Urinnote, die sich mit Sicherheit weniger unauffällig verhielt, wenn man sich den Wänden näherte. Die Weite solcher Gebäude und die Luft, die beständig durch die zerbrochenen Fenster drang, verhinderte, dass der Gestank allzu unangenehm wurde. Und so musste es sich auch an diesem Ort verhalten, obwohl von Luftbewegungen nichts zu spüren war. Und in der Tat streifte kein Hauch die Haut der Leserin, was die Absurdität dieser Umgebung noch einmal unterstrich. Was immer die Nebelschwaden bewegte, der Wind war es nicht.

Die Verarbeitung der Sinneseindrücke benötigte nur einen Moment und wurden von einer Akustik unterbrochen, die aus der fliegenden Kugel drang. Es kostete den Leserin einiges an Konzentration, die blechernen Geräusche als Sprache zu identifizieren und eine weitere Zeit, um zu begreifen, dass sie die Sprache verstand:

„Hey,du, meine Freundin! Sei willkommen in der Kugelwelt. Vor dir liegt ein Abenteuer und ich versichere dir, dass du so eine Reise noch nie unternommen hast.“



ree

B05/47

Der Erkundungsroboter musste zugeben, dass ihn die Verständnislosigkeit auf diesem, in den letzten Tagen so vertraut gewordenen Gesicht befremdete. Für B05 war es kein Geheimnis, dass sich seine Freundin an diesem Tag nicht an ihn erinnern konnte, aber er hätte nicht gedacht, dass es ihn so sehr beschäftigte.

Er bemühte sich um einen sanften Tonfall, musste aber sofort einsehen, dass diese Bemühung an seiner Hardware scheiterte. Er war nicht für Wellnessaufgaben programmiert und konnte deshalb die Tonfarbe seiner emotionslosen Sprache nicht beeinflussen. Er hoffte allerdings, dass der Inhalt seiner Worte ausreichte, eine beruhigende Wirkung zu entfalten: „Habe keine Angst. Tritt näher und stärke dich. Ich werde dir dabei das Nötigste erklären. Es muss wirklich überwältigend für dich sein.“

„Ich habe mal gelesen“, hörte B05 die Leserin entgegnen, „dass man seine Träume beeinflussen kann, wenn man sich bewusst ist, dass man träumt. Es stand dort, dass man die Figuren, die man sich zusammenspinnt, fragen soll, wer sie in Wirklichkeit sind. Dann verändern sie sich und geben ihr eigentliches Wesen preis. Also: Wer bist du?“

„Eine ausgezeichnete Frage und sie legt den Finger direkt in die Wunde, denn ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. In dem Protokoll über menschliche Gepflogenheiten steht, dass sich das ganz und gar nicht gehört.“ Er flog summend um den Tisch herum und hielt sich dann auf Schulterhöhe vor dem Menschen. „Ich bin B05/47 und ich bin eigentlich ein Erkundungsroboter, aber aus Gründen, die sich nicht berechnen lassen, stecke ich mit dir in einem X-Feld fest. Ich werde dir gleich die Definition eines X-Feldes verraten und dir erklären, welches die bedeutendste Spielregel von allen ist.“

„Eigentlich habe ich mir das jetzt anders vorgestellt. Ich habe erwartet, dass du dich in meine Lehrerin aus der Grundschule verwandeln würdest, vor der ich immer Angst hatte.“

B05 hatte keine Ahnung wovon Hey-du sprach, aber es war mit großer Sicherheit nicht von Bedeutung.

„Ich heiße übrigens ...“

Der Roboter unterbrach die Leserin mit einem Tusch, den er aus seinen Lautsprechern donnern ließ.

„Dein wirklicher Name ist hier in dieser Umgebung nicht von belang. Ich habe dich immer Hey-du genannt und wir sollten es dabei belassen.“

Die Leserin schüttelte den Kopf. „Wann hast du mich so genannt? Ich habe so etwas wie dich noch nie gesehen! Was sollst du überhaupt darstellen?“ Und nach einer Weile murmelte sie: „Was ich in diesem Traum wohl aufarbeite?“

„Traum? Meinst du dieses Halluzinationgeschehen, das bei höher entwickelten, organischen Verbindungen während der Ruhephasen vorkommt? Da muss ich dich enttäuschen, du träumst nicht.“

„Ha! Beweise das!“

„Kann ich nicht, aber du wirst es nach deiner nächsten Ruhephase begreifen. So, nun komme runter von diesem Hügel und stärke dich. Ich habe dir einiges zu erklären.“



ree

Die Leserin

Die Beeren waren schmackhaft.

Das Schwarz ihrer Oberfläche stellte sich bei näherer Betrachtung als ein tiefer Rotton heraus und weckte die Erwartung einer schweren Süße. Doch kaum hatte die Hülle die Zunge der Leserin berührt, ließ ein Absturz des PH-Wertes in ihrem Mund für den Bruchteil einer Sekunde die kleinen Muskelgruppen in der Kieferregion zusammenziehen. Bevor das Geschmackserleben jedoch unangenehm wurde, platzte die Haut der Beere, ohne dass eine Kraft darauf einwirken musste und eine dominante Süße durchströmte den Rachenraum. Sie verband sich mit der Säure zu einer prickelnden Mischung und wurde beim Zerkauen der Frucht immer herber. Der Leserin spürte winzige Samen, die im Fruchtfleisch verborgen waren und die ebenfalls zersprangen, sobald sie im Mundraum herumgeschoben wurden und mit ihrer, immer neu aufflammenden Süße, die Bitterstoffe abmilderten.

Die Intensität dieses Erlebnisses verdrängten den Zweifel an der realen Existenz dieser Umgebung. Aber wenn das hier kein Traum war, wo war sie dann, wie ist sie hier hergelangt und was sollte sie an diesem Ort?

„Du fragst dich sicher, was das hier alles soll?“ Der Roboter hielt sich in kreiselnden Bewegungen sich vor ihr in der Luft.

„Kannst du Gedanken lesen?“

„Das nicht, aber ihr Menschen seid in extremen Situationen extrem berechenbar. Es gibt zwar typbedingte Variationen aber im Grunde...“

„Wie war noch mal dein Name?“

„B05/47, aber du kannst mich B05 nennen. Du hast mich die ganze Reise schon so genannt.“

„Ich habe keine Ahnung...“

„Natürlich nicht, woher auch. Die Sache ist Folgende: Aus einem Grund, den ich nicht berechnen kann, - und ich habe die Vermutung, er hat für uns weder eine Wirkungsursache noch ein Wirkungsziel - sind wir in einem X-Feld gefangen. Die Legende, die solchen Phänomenen zugrunde liegt, werde ich dir später erzählen. Jetzt ist es erst einmal wichtig, dir zu erklären, was du in den verbleibenden elf Tagen auf gar keinen Fall tun darfst. Es ist sozusagen das erste Gebot.“

Der Roboter machte eine Pause, als warte er auf eine Frage. Die Leserin hatte aber keine Lust, nach einer Erklärung zu verlangen, die sie im Moment eh nicht verarbeiten konnte. Sie entschloss sich, die Maschine interessiert anzuschauen, ihre Worte zu verstehen und sich den Fragen zu widmen, die sich auf natürliche Weise in ihr bildeten. „Willst du gar nicht wissen, was das erste Gebot ist?“


„Doch, aber ich bin verwirrt und lasse dich erst einmal reden.“


„Nun gut! Meine Reise begann vor genau zwölf Zyklen...“


„Was bedeutet das? Sind das Zeiteinheiten? So etwas wie Tag?“


„So kann man es sehen. Es ist immer die Zeit zwischen drei Rufen.“


„Was für Rufe?“


„Die Rufe des Vogels, den die alten Völker „Arkasta, die Schreckliche“ nannten. Ein Wesen, das in einem schwer zugänglichen Gebirge einer anderen Dimension lauert und die Zugänge zwischen den Welten bewacht.. Ich denke, in diesem Punkt ist bei uns irgendetwas schief gelaufen.“

„Wer sind denn die alten Völker? Und warum hat dieser Arkasta-Vogel so einen dämlichen Name? Er klingt wie der Feder eines mittelbegabten Fantasy-Autoren entsprungen.“

„Ich weiß nicht, warum die Dinge heißen, wie sie heißen. Ich kann dir auch nicht erklären, wer die alten Völker sind, das würde den Rahmen sprengen. Vielleicht wird das in einem anderen Buch erklärt. Denn das ist dir doch bewusst, nicht wahr? Das hier ist zwar real, aber wir befinden uns mitten in der Handlung einer Erzählung.“

Die Leserin betrachtete die fliegende Maschine, die ihre fünf Beine in einer zufälligen Reihenfolge vom Körper ausstreckte und wieder einklappte, so als redete sie mit den Händen. Es hatte etwas spinnenhaftes, ohne jedoch unsympathisch zu wirken.

„Aha.“ Sie war so von den Bewegungen des Roboters gefangen gehalten, dass sie nur mit halben Ohr zugehört hatte. „Und was ist jetzt dieses Z-Feld?“

„Es gibt kein Z-Feld, soweit ich weiß.“

„Naja, dieses Dingsbums-Feld, von dem du die ganze Zeit redest.“

„Ach so, das X-Feld! Es ist eine Anomalie im Zeitgefüge und erstreckt sich auf einen begrenzten Zeitraum. Innerhalb des Feldes gibt es zwei Parteien, in unserem Fall sind das wir beide, die in gegenläufiger Zeitrichtung zusammen dieses Feld durchqueren müssen.“

„Wie bitte?“

„Gut, ich versuche, das anschaulicher zu erklären. Vor zwölf Zyklen begab ich mich auf eine Reise. Dort habe ich dich kennen gelernt und wir sind zusammen den ganzen Weg bis zu diesem Ort gereist und haben viele Abenteuer erlebt. Du weißt davon allerdings noch nichts, denn deine Reise hat heute erst begonnen.“

„Moment!“ Der Leserin hatte das Gefühl, sein Kopf könnte explodieren. „Du sagst, ... ja, was sagst du eigentlich? Dass ich schon einmal hier war und alles wieder vergessen habe?“

„Nein, du bist jetzt hier zum ersten Mal. Aber gestern warst du schon einen Tag hier. Du bewegst dich in der Zeit in die entgegengesetzte Richtung. Mein Gestern, wird dein Morgen. Und nun kommen wir zu dem wichtigen Punkt. Den wichtigsten Punkt von allen. Kannst du dir vorstellen, was das ist?“

Ein Geräusch zog über die Welt. Es war angenehm voll und durchdringend und hatte Ähnlichkeit mit einem Nebelhorn. Augenblicklich änderte sich die blechende Erzählstimme des Roboters. Sie wirkte beinahe nervös: „Wir sollten uns auf dem schnellsten Weg einen sicheren Unterschlupf suchen.“ Die Leserin wusste nicht, ob ihn die besorgte Computerstimme beunruhigen oder belustigen sollte.

Dieses Gefühl wich allerdings recht schnell einer Angst, die sie das letzte Mal empfunden hatte, als sie ein Monster unter dem Bett vermutete. Das war schon sehr, sehr lange her.

Der Boden wackelte. Die Gegenstände veränderten ihre Formen. Einige entfalteten sich mit einer Geschwindigkeit, die die Leserin an Transformerroboter aus Filmen erinnerten. Andere hingegen zerflossen wie geschmolzenes Blei und krochen wie Wachs über den Boden oder fielen in sämigen Tropfen auf den Grund. Steine schmiegten sich wie Leinentücher an den Untergrund. Einige Kabel umgarnten sich wie von Geisterhand bewegt und verschlangen sich zu bizarren Knoten. Durch andere schienen sich feste Gegenstände in unterschiedlichen, geometrischen Figuren hindurchzupressen und ließen die Enden der Stränge explodieren. Alle diese Bewegungen begleitete ein Knirschen, das in Wellen anhob und abebbte und die Vibrationen, die sie verursachten, fuhren der Leserin in den Magen. Ein Echo, das sich wie gequältes Metall durch eine leere Fabrikhalle dröhnte, unterstrich die Atmosphäre, die vom Geruch nach verbranntem Gummi, geschmolzenem Stahl und saurer Erde durchzogen war. Besonders das Wasser verpestete mit seinen Fäulnisgasen die Luft.

Es dauerte eine Weile, bis die Leserin begriff, dass das feuchtkalte Gefühl an ihren Füßen von eben dieser Brühe herrührte, die sich langsam aus den Boden an die Oberfläche wühlte. Es hatte die Sohlen ihrer Schuhe bereits überschwemmt und kroch in ihre Öffnungen.

Die vielen Beine des Tisches vor ihr schlängelten sich um die Tischplatte, die ihre stabile Konsistenz verloren hatte und sich wie ein Tuch den Bewegungen anpasste. Obwohl immer genug Tischbeine die Abstellfläche in der Höhe hielten, warfen ihre Wellenbewegungen die Schüssel mit den Beeren von einer Seite zur anderen. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann kippte das Behältnis und die Früchte rollten dem Wasser entgegen, das an den Tischbeinen hochstieg.

Die Leserin sah, wie der Erkundungsroboter zwei der Beeren auffing, bevor sie im Wasser verschwanden. Sie selbst war nicht mehr in der Lage, klar zu denken, geschweige, sich zu bewegen.

Doch genau das verlangte der Erkundungsroboter: „Was stehst du so dumm herum! Wir müssen uns in Sicherheit bringen.“ Er umkreiste die Leserin und stieß sie einige Male gegen den Rücken. Es war mehr die Mechanik dieser Stöße, als ihr Wille, die sie durch das Wasser waten ließ. Es hatte mittlerweile die Hälfte ihres Unterschenkels erreicht und erschwerte das Vorwärtskommen.

„Was soll das alles?“ Sie konnte die Frage nur stammeln.

„Das ist der dunkle Zyklus, die Zeitspanne, die Arkastas zweitem Ruf folgt. Ich hatte sie nicht so früh erwartet. Aber es ist dumm, etwas an diesem Ort vorhersehen zu wollen. Es ist hier lediglich sicher, dass man sich auf nichts verlassen kann.“

„Aber warum“, die Leserin hatte das Ufer erreicht und beobachtete den Roboter, der sie nun überholte und voran flog, „ändert sich hier alles? Was ist die Ursache?“

„Hab ich doch gerade gesagt.“

„Aber das ist doch keine physikalische Erklärung!“ Es war nicht leicht, der Maschine zu folgen, da sich die Beschaffenheit des Untergrundes ständig änderte. Zudem spürte sie, dass ihr das Wasser nachstieg.

„Es gibt keine physikalische Erklärung.“

Die Leserin blieb einen Augenblick stehen, um Luft zu holen. Sie merkte, wie sie mit die Unebenheiten ausgleichen musste, beinahe so, als stünde sie bei bewegter See auf dem Deck einer Jacht. „Und was machen wir jetzt?“

„Jetzt suchen wir uns einen sicheren Ort, ich schalte meinen Stabilisator an, der verhindert, dass uns die Wände unseres Verstecks zerquetschen und dann erkläre ich dir die wichtigste Regel.“


B05/47

B05 hatte sich nach seiner Begleiterin umgedreht und pendelte vor ihm in der Luft. Der Befehl, der aus seinen Lautsprechern donnerte, ließ sie zusammenzucken. „Hey-du! Nicht bewegen!“ Es dauerte eine Sekunde, bis die Leserin begriff, dass sie mit „Hey-du“ gemeint war und einen Augenblick später wurde sie des Wurmes gewahr, der über die Schulter ihrer Brust entgegen kroch. Er war zur Gänze mit Haaren überzogen, die aus allen Richtungen aus dem Körperwulst ragten. Sie spürte sie an ihrem Hals entlang kratzen, wie die Kunststoffborsten einer Bürste. Am vorderen Ende des Weichtieres ragte ein Harken aus dem gliederlosen Leib. Er bohrte sich durch den Stoff des Oberteils, ohne jedoch in die tieferen Hautschichten einzudringen. Bald darauf spürte sie einen zweiten Wurm über ihren Arm kriechen und an ihrem Rücken wurde sie eines dritten Tieres gewahr. Sie konnte es nicht sehen, aber der Druck, den diese Wesen durch ihre Kleidung hindurch ausübten, verleiteten die Leserin zu der Annahme, dass sie aus mehr als dem madenhaften Körper bestanden. Er spürte ein Kitzeln durch den Stoff ihres Oberteils, als ob diese Tiere lange Fäden hinter sich herzögen. „Ich habe nicht die Absicht mich zu bewegen.“ Sie konnte sich vorstellen, wie sie den Roboter in hilfloser Verzweiflung anschaute. „Aber ich kann hier ja nicht ewig stehen bleiben.“ Das Wasser hatte sie weiter eingeholt und umspülte ihre Beine. Zu ihrem Entsetzen fühlte sie etwas in ihr Hosenbein kriechen. „Was sind das für Dinger?“

„Das sind keine Dinger.“ Sie sah B05 auf sich zufliegen und einen Arm auf sie richten. Der Blitz, der aus diesem Arm drang, schlug dicht hinter ihm ins Wasser und ließ ein Fontaine der braunen Brühe auf sie niederregnen. Augenblicklich ließen die Würmer von ihm ab. „Es ist ein Ding!“ Und in dem Getöse den die Wassersäule verursachte, die sich nun aus dem Wasser erhob, ging die Aufforderung der Maschine fast unter: „Und jetzt lauf!“

Obwohl alles in der Leserin darauf drängte, dem Befehl des Roboters Folge zu leisten, konnte sie ihre Neugier nicht überwinden und drehte sich um. Ein gewaltiger Fehler, wie sich herausstellte.


Sie konnte nicht sagen, was für ein Lebewesen sich hinter ihr zu seiner vollen Größe aufbaute. Es hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem Tier, das sie kannte. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es sich überhaupt um ein Lebewesen handelte. Es besaß keinen wirklichen Kopf, lediglich eine pulsierende Verdickung, die wie der Rest des Rumpfes aus losen Fäden zusammen gewebt wirkte. Daraus entsprang aus dem Scheitelpunkt eine unüberschaubare Anzahl Tentakel, die sich um das Gebilde schlängelten. Sie verzweigten sich und bildeten an ihren Enden die larvengleichen behaarten Wulste, aus denen Hornharken ragten. Der Gestank, den das Wesen ausströmte vermischte sich mit dem faulen Wasser und erinnerte die Leserin an einen Schulausflug. Sie konnte sich noch gut an die Besichtigung des örtlichen Klärwerks erinnern. „Ach, du Scheiße!“ Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte sie sich über ihren Ausruf, der perfekt zu ihrer Assoziation passte, sicher amüsiert. Nun lag der Fokus darauf, ihre Schockstarre zu überwinden. „Wo kommt das denn plötzlich her?“

„Ich habe gesagt, du sollst laufen!“, brüllte der Roboter, während er unentwegt auf das Wesen feuerte. Ein fraglos unnützes Unterfangen, denn der Energiestrahl zerriss zwar die Fasern, aus denen der Körper bestand, doch die einzelnen Fäden bewegten sich augenblicklich aufeinander zu und wuchsen zusammen. In diesen Regenerationsphasen jedoch, bewegte sich das Ding langsamer und so hatte man zumindest theoretisch die Möglichkeit zu entkommen. „Ich möchte wirklich nicht sehen, was dieses Monster mit Kohlenstoffverbindungen wie dir anstellt.“ Das Untier erhob sich weiter, immer wieder unterbrochen von den Reparaturvorgängen und etwas, das entfernt wie ein Fuß aussah, ein Fuß, aus dem sich weitere Tentakel wanden, entstieg dem Wasser und pendelte direkt über der Leserin. Und als sich der Schatten des Untergangs über ihr zu senkten drohte, schaltete sie endlich in den Fluchtmodus.

„Wohin?“

Das Wasser bremste ihre Bewegungen, allerdings war ihr gigantischer Verfolger in keiner besseren Situation. Dabei war dem Wesen nicht nur seine Masse im Weg, sondern auch das Dauerfeuer des Roboters.

„Dort drüben auf dem Hügel habe ich eine Art Box gesehen. Die sollte uns vor den Monstern, vor spontan entstehenden Untiefen und vor Gegenständen, die sich in tödlichen Fallen verwandeln, schützen.“

Sie hatten Glück. Das Wesen schien am Ufer des Gewässers die Jagd aufgegeben zu haben und zog sich an einer Stelle, die die Leserin wenige Augenblicke zuvor noch mühelos durchwaten konnte, in eine geheimnisvolle Tiefe zurück.

Kaum waren die letzten Blasen an der Oberfläche zerplatzt, fiel B05 mit lautem Geschepper zu Boden. Seine Kugelform war noch nicht ganz ausgependelt, als sich einige bizarr geformte Gegenstände auf ihn zukrochen fast so, als wollten sie ihn zu sich ziehen, als wollten sie ihn zu einem der Ihren machen, zu einem Gegenstand, der im Grunde unbelebt, durch den Ruf dieses Arkastahuhns aber zu einem fremdgelenkten Teil eines unbegreiflichen Organismus wurde.

Es war mehr Instinkt, als wirkliche Reflexion, die die Leserin dazu brachte, die Maschine aufzuheben und dem Versteck entgegenzulaufen. „Danke, Hey-du. Das war schon wieder mein Flugrelais. Es ist das fünfte dieser Reise. Normalerweise sollte ich selbst bei Dauerbetrieb ein gutes Jahr mit einer dieser Schaltung hinkommen.“

Und schließlich erreichten sie den Unterschlupf, der etwas mehr als nur eine Box war. B05 hatte dort sogar etwas gefunden, was er später elektrisches Feld nennen sollte. Das waren, so sollte er die Leserin einweihen, kleine Gebiete, die unter einer elektrischen Spannung standen, ohne, dass dafür eine physikalische Ursache ersichtlich war. Der Roboter konnte diese Felder nutzen, um seine Batterien aufzuladen, und er tat es sofort, nachdem er den Stabilisator eingeschaltet und die Leserin in das Geheimnis des Relaiswechsels eingeweiht hatte.

„Also!“ Die Leserin reagierte wenige Stunden später auf ein Gespräch, dem sie Mühe hatte einen Sinn zu geben. Ihr Gehirn, eigentlich ihre gesamte Existenz, weigerte sich gegen diesen Zustand. „Wir werden demnach in den nächsten elf Tagen in dieser Umgebung auf eine Reise gehen. Das heißt, eigentlich gehe ich auf diese Reise, denn du hast sie bereits hinter dir. Wir werden eine Menge Abenteuer erleben und am Ende, wenn ich alles richtig gemacht habe, kommen wir beide wieder aus diesem seltsamen X-Feld heraus. Diese Welt, in der wir uns befinden, ist die Kugelwelt, und unser, na, eigentlich mein Ziel ist es mit deiner Hilfe in eine dieser Gebilde zu kommen, die hier und dort am Horizont durchschimmern. In diesen Kugeln, ich denke mal, es ist der Grund, warum diese Welt „die Kugelwelt“ heißt, befinden sich Städte mit Menschen, die von einem Zentralcomputer regiert werden. Die Kugelstädte schützen diese Leute vor der Außenwelt, die sich nach den Zyklen richtet, die ein Huhn mit einem furchtbar bescheuerten Namen und seinem mehr oder weniger periodischen Gegacker vorgibt. Es gibt dabei eine Tagzeit, in der nichts Besonderes passiert, außer dass man vielleicht von dem einen oder anderen Zombie gejagt wird – ich glaube einfach nicht, dass ich das gerade ausspreche – und eine Nachtzeit, in der sich nicht nur die Gegenstände verändern, sondern sogar die komplette Umgebung. Das bedeutet, dort wo sich eben noch ein Gebirge von sonderbaren Gegenständen auftürmt, versinken sie wenige Momente später in einem kilometertiefen Gewässer. Habe ich etwas vergessen?“

„Die Monster!“

„Ach ja, die Monster! Die tauchen hin und wieder während der Nacht auf, sind aber nicht für alle Menschen sichtbar. Besonders Kindern erscheinen sie und auch Roboter bemerken sie fast immer, jedenfalls wenn sie ein Bewusstsein haben und überhaupt etwas erkennen können. Und nun wolltest du mir die wichtigste Regel von allen verraten.“

„Ich denke, morgen ist für dich auch noch ein Tag. Es ist schon spät und du siehst müde aus.“ Er legte die beiden Beeren auf einen Vorsprung, der aussah wie eine Bank. Daneben war eine kleine Erhebung, auf der sich eine Schaumstoffauflage befand. „Das sieht doch bequem aus. Ich bleibe nun bei dir und warte, bis du eingeschlafen bist. Dann wird es nicht noch verwirrender, wenn du morgen die Augen aufschlägst. Es ist doch recht seltsam, dass das alles nun für mich vorbei ist. Ich muss zugeben, auch wenn es für mich nicht in der Programmierung festgeschrieben ist, ich werde dich vermissen. Zumindest, wenn ich mich an unsere Reise erinnern kann.“

Die Leserin verstand das alles nicht.

„Ich bin wirklich erschöpft“, sagte sie. „Und ich bin froh, dass die Klamotten hier augenblicklich trocknen, wenn man sich vom Wasser entfernt. Es gibt nichts Schlimmeres, als in nassen Kleidern schlafen zu müssen.“

„Gute Nacht und eine Sache noch!“

„Was?“

„Wenn du am Ende deiner Reise angelangt bist, wirst du feststellen, dass ich mich dir gegenüber seltsam verhalte. Es ist unglaublich wichtig, dass du mir eine Frage stellst. Es hängt dein Leben davon ab, also vergesse sie nicht.“

„Ich höre!“

„Du musst mich fragen, was ein X-Turn ist.“

„Was ist ein X-Turn?“

„Das erfährst du später. Es ist in meiner Datenbank versteckt, aber das wusste ich bei unserem ersten Zusammentreffen noch nicht. Vergesse es auf gar keinen Fall.“

„In Ordnung.“ Das war das Letzte, was die Leser an diesem Tag sagen sollte. Die Schaumstoffunterlage war zwar nicht sehr bequem, aber ihre Erschöpfung ließ sie darüber hinwegkommen, sobald sich ihre Augen schlossen und sie eine wohltuende Dunkelheit umschloss. Die Dunkelheit, die im Anfang lauert.


Textanfang



Kommentare


Frühstück
Mittag
Abendbrot
  • Twitter
  • Facebook
  • YouTube

©2019 Claudia Roman - Autorin. Erstellt mit Wix.com

bottom of page