Kapitel 4 oder 9 – Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
- claudia_roman

- 1. Apr. 2020
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Mai 2024

Die Leserin Die Leserin hatte kaum ein Auge zugetan. Es war der Schmerz, der sie immer wieder aus dem Schlaf riss.
Sie sah zu ihrem Retter, der sich in eine Ecke des Verschlages zurückgezogen hatte und sich nun im Ruhemodus befand. Das gelbe Licht leuchtete beständig.
Einen Augenblick überlegte Hey-du, ob sie den Roboter manuell einschalten und um eine Schmerzinjektion bitten sollte. Entschied sich jedoch dagegen. Im Gegensatz zu ihm wusste sie, was noch auf sie zukommen sollte und ihr Freund hatte die Erholung bitter nötig. Die Leserin versuchte statt dessen, durch gezielte Atemübungen die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Sie schloss die Augen und achtete darauf, dass sie die Luft nicht durch die Nase zog. Der Gestank war zwar nicht unerträglich, aber dem Versuch sich zu entspannen, eher abträglich.
Irgendwann floss die Luft in ruhigen Wellenbewegungen durch ihre Atmungsorgane und sie konnte sich nach einiger Zeit tatsächlich fallen lassen. Ihre Angst glitt zusammen mit den Schmerzen und ihrem Bewusstsein ins Nichts.

B05/47
Diesmal war es keine Finsternis, die B05/47 umschloss und er fiel auch nicht in alle Richtungen zugleich durch einen Tunnel irritierender Lichterscheinungen. Diesmal brauchte er nur den Ruhemodus außer Betrieb zu schalten.
Vor ihm lag Hey-du auf einer Polsterunterlage. Sie war mit einer Plastikplane zugedeckt und nur der Kopf lugte hervor. Die Hautdurchblutung des Menschen zirkulierte mit einer Geschwindigkeit von 0,537 Liter pro Minute und verursachte eine ungesunde Blässe. Die Atemzüge waren kurz und drangen nicht tief in die Lunge des Menschen. Der Sauerstoffaustausch lag bei ungefähr 11,439 Liter pro Minute. Die Herzfrequenz betrug 163 Schläge in der Minute bei einem Blutdruck von 95 zu 55 mmHg. Das Blutvolumen deutete auf einen Blutverlust von knapp 1,783 Liter. Alle diese Werte waren nicht kritisch, doch seiner Begleitung ging es nicht gut. Die Anzahl der Leukozyten war erhöht und einige andere Daten wiesen ebenfalls auf akute Entzündungsreaktionen hin. Dessen ungeachtet war B05 erstaunt, wie rasant sich der Zustand seines Begleiters verschlechtert hatte.
Etwas musste also im Laufe dieses Tages passiert sein, das die Verfassung des Menschen für seinen nächsten Tag beeinflusste. Während er nach einer Lösung suchte, bemerkte er einen weiteren ungewöhnliche Fakt. Die Luft wies eine eigenwillige Zusammensetzung auf. Neben Ammoniak und Schwefelwasserstoff nahmen die Sensoren des Roboters auch einige Diamine wahr, die bei organischen Fäulnisprozessen gebildet werden. Die Beschaffenheit der Luft konnte die flache Atmung erklären. Sie musste für den Organismus des Menschen sehr belastend sein.
B05 konnte sich gut vorstellen, dass Hey-du außerhalb des Verschlages besser aufgehoben war. Dort war die Luft zwar wärmer, was der Linderung der Entzündungsschmerzen abträglich war, aber reiner, was den Gehalt an Sauerstoff umfasste. Dessen ungeachtet, erkannte der Roboter ziemlich schnell den Grund, weshalb sie sich für diesen Ort entschieden hatten und es verursachte in seinen Schaltkreisen ein Unbehagen.
Hey-du blinzelte. In ihren Augen glitzerten die Reflexionen, die B05s Kontrolllampen in ihr Gesicht warf. Auch die Wangen des Menschen schimmerten im Licht. Die Körpertemperatur lag bei 38°C. Sie war also erhöht, aber rechtfertigte nicht das Erscheinungsbild.
„Hast du Schmerzen?“, fragt B05. Seine Begleitung nickte. „Was ist passiert?“ Seine Begleitung schüttelte den Kopf und hätte der Roboter eine Stirn und eine Handfläche gehabt, hätte er beide Körperteile mit einem Klatschen zusammengeführt. Stattdessen deutete die nach unten ausklingende Dreitonfolge an, dass er die Wertigkeit seiner Frage verstand und bewertete. „Wie dumm. Ich bitte um Entschuldigung, muss aber zu meiner Verteidigung sagen, dass ich gerade den Ruhemodus verlassen habe und meine Schaltkreise noch warmlaufen.“ Der Mensch blinzelte erneut. B05 konnte diese Geste nicht deuten und beschloss sie zu ignorieren. „Ich werde etwas suchen, was deine Schmerzen lindert und deinen Heilungsprozess unterstützt.“ Ich muss sogar so etwas finden, sagte er zu sich, sonst produziere ich ein Paradoxon. Es wäre zwar nicht sonderlich groß, aber es könnte gefährlich werden. So wie der Roboter den Gesundheitszustand der Leserin einschätzte, würde sie das, was am nächsten Morgen auf sie zukommen sollte, mit großer Warscheinlichkeit nicht überstehen.
Hey-du schüttelte wieder den Kopf, diesmal etwas energischer. Ihre Unterkiefermuskulatur spannte sich an und seine Lippen formten sich zu einem Buchstaben. Doch sie war zu schwach, um etwas zu sagen.
Draußen schaltete er in den Fernsichtmodus. Sie waren geographisch nicht von der Stelle gekommen. Das konnte er erkennen, obwohl die Umgebung sich verändert hatte. Natürlich hatte sie sich verändert. Das war ihre Natur. Doch in 20357 Metern warf die nächste Kugelstadt ihren Schatten über die Hügel. Exakt diese Strecke hatte er gestern auch gemessen. Natürlich unbewusst, denn sein Fokus war auf das Auffinden seiner verschwundenen Begleiterin gerichtet. Jetzt aber ließ sich der Wert immer noch aufrufen. Und er stand in erreichbarer Ferne. Es kam natürlich darauf an, wie es die Gegenstände zuließen, die auf der Strecke herumlagen, aber einen Versuch war es definitiv wert. Eine Stadt war nicht das Schlechteste, was ihnen passieren könnte. Davon war der Roboter überzeugt.

Die Leserin
Der Schlaf hatte der Leserin gutgetan. Die Schmerzen hatten sich nicht wie durch ein Wunder in Luft ausgelöst, aber sie hatten die Ebene des Unerträglichen verlassen.
Sie fühlte sich fast erfrischt, als B05/47 seinen Kugelleib wieder in den Verschlag steckte. Und das, obwohl sich der Gestank unvermindert in der Luft hielt.
„Hallo B05! Gefunden, was du gesucht hast?“
„Hallo Hey-du! Ich erwarte ein Zustandsprotokoll von dir, bevor ich auf deine Frage antworte.“
Die Leserin lächelte schwach. „Mir geht es etwas besser. Danke der Nachfrage.“
„Ich habe keine Frage gestellt, aber um deine zu beantworten: Ich habe einige nützliche Dinge aufspüren können, die deiner Verfassung dienlich sein könnten.“
„Ist dir etwas aufgefallen? Vielleicht Gestalten, die sich auf uns zu bewegen? Gestalten mit einer falsch justierten Motorik?“ Die Leserin grinste in sich hinein. Wieder hatte sie die Sprachmuster seines Begleiters übernommen. Das kam in letzter Zeit häufiger vor, als ihr lieb war.
„Es waren keine Untoten zu sehen.“ Anscheinend konnte Hey-du ihre Verwunderung über den unerwarteten Schluss des Roboters nicht verbergen, denn die Erklärung folgte sofort. „Du hast nichts im Schlaf verraten. Ich habe lediglich die Ausdünstungen der wabernden Schlenkgrümpfe und deinen Allgemeinzustand als Prämissen meiner Berechnung zugefügt und bin darauf gekommen, dass wir mit einer Wahrscheinlichkeit von annähernd 92,438 % von Zombies angegriffen wurden.“
„Ich kann dazu nichts sagen. Du weißt-“.
Der Roboter überhörte den Einwurf. Es wahr zu offensichtlich und natürlich hatte er keinen Anlass etwas über den Angriff, wenn man das denn so nennen wollte, zu erfahren. „Aus diesem Grund“, fuhr er fort, „habe ich neben entzündungshemmenden Wurzeln und Pflanzen auch einen Butterfisch gefangen. Er gibt beim Kochen einen Schleim ab, der eine schmerzlindernde und leicht euphorisierende Wirkung entfaltet.“
„Ein euphorisierender Schleim?“ Immer wenn die Leserin glaubte, es könnte nicht schlimmer kommen ...
Sie beobachtete, wie der Roboter sich auf drei seiner Standbeine niederließ und mit den verbleibenden beiden ein Stoffpäckchen aus einem Fach hervorholte, das an seiner Unterseite angebracht war. Darin befanden sich Pflanzen und Pilze, die die Leserin bereits kannte, aber auch einige ihr unbekannte Gewächse. Auf dieser Sammlung lag ein bereis filetiertes Stück von dem Fisch mit der euphorisierenden Wirkung. B05 drehte einen der Arme und schloss die Greifvorrichtung zu einem Ring und breitete die Seiten seiner Finger, die aus teleskopartigen Schichten bestand in die Höhe, so dass eine Art Schüssel entstand. Den Boden bildete die Unterseite der Greifkonstruktion, aus der sich zu beiden Seiten Segmentplatten zur Mitte hin verschoben und sich ineinander fest verhakten. Seine freie Hand ließ der Roboter zunächst wie ein Zauberer über dem Gefäß schweben. Aus seiner Schüsselhand erschien jedoch kein weißes Kaninchen, sondern ein Wasserstrahl plätscherte aus den Fingern seiner anderen Hand und füllte das Behältnis unter ihr zur Hälfte. Dann wechselte B05 das Standbein und nutzte das Waffensystem seines Armes als Bunsenbrenner.
Als nach kurzer Zeit das Wasser kochte, schaltete der Roboter in den Greifmodus zurück und gab einige ausgewählte Knollen in brodelnde Flüssigkeit. Diesen Schritt wiederholte er, bis fast alle Zutaten im kochenden Wasser verschwunden waren. Vermutlich hätte außerhalb des Verschlages der Duft auf die Leserin appetitanregend gewirkt. Hier allerdings verband er sich mit dem Gestank der schlafenden Käfer zu einer ekelerregenden Mischung. Der Greifarm wurde zum Standmixer und zu guter Letzt zu einem Durchlaufschnitzer, in dem der Fisch und einige Pilze in mundgerechte Stücke geschnitten wurden.
Die Leserin war so fasziniert von den Fähigkeiten ihrer Begleitung, dass sie ihre Schmerzen fast vergessen hatte, auch ohne euphorisierenden Schleim.

B05/47
Die Zusammensetzung der Suppe war perfekt.
Das Schwierigste an der Zubereitung war die Organisation trinkbaren Wassers.
Wasser gab es in der Außenwelt im Überfluss, aber es war meist durch Metallpartikel und Keime so verunreinigt, dass eine gefahrlose Aufnahme für einen Menschen nicht gewährleistet war. Sein Handbuch war bei der Suche eine großartige Hilfe. B05 fand heraus, dass eine Trinkwasserstelle leicht zu identifizieren war. Das Problem bestand aber darin, sie zu finden. Es war das Vorkommen einiger Pflanzen und Tiere, die auf die Verwertbarkeit der Flüssigkeit hindeutete. Allen voran war da der Butterfisch zu nennen, der unter seiner Haut eine ephedrinhaltige Sekretschicht bildet und somit nicht nur die Qualität seines Lebensraumes bezeugte, sondern auch als wertvolle Zutat diente. Der Erkundungsroboter empfand sich in seinem Element und bemühte eine passende Jubelsequenz aus seinem Audiorepertoire als er endlich eine geeignete Stelle fand. Die Butterfische waren dabei nicht die einzigen Schätze, die er heben konnte. Einige Myzeten, die ebenfalls eine leichte psychoaktive Wirkung auf Menschen hatten, wuchsen am Rand des Gewässers, das nicht nur von Schrott und Beton, sondern auch von allerlei anderen Gewächsen umringt waren. Die Umgebung war nicht in der Lage starke, massive Gewächse hervorzubringen, aber die Rhizome der Sträucher und Halbsträucher, krallten sich in die dünne Erdschicht und bohrten sich in das Geröll. Sie klammerten sich an alles, was in ihrer Nähe als Halt dienen konnte und überzogen viele der verfremdeten Gegenstände mit einem Rankengewebe.
Besonders die Braungrümpfe und Wehrsaumen erweckten das Interesse des Roboters. Die Doldenblüten der Braungrümpfe verdrängte den milchig-bläulichen Nebel und schienen fast zu floreszieren, während die ausladenden Trompetenblüten der Wehrsaumen die Reflexionen des Wassers in ihr natürliches Wechselfarbspiel einbauten. Seiner Medidatenbank zufolge, hatten die Wurzeln dieser Pflanzen einen entzündungshemmenden Einfluss auf kohlenstoffbasierte Organismen und somit auch ihren Platz in seiner Suppe. Es folgten noch weitere Gewächse, die allerdings eher der Geschmacksbildung nutzten.
Nachdem er endlich die Oase aufgetan hatte, ging das Aussuchen und Sammeln der Bestandteile des Rezeptes ausgesprochen flink. Während der ganzen Zeit erfasste in einem Nebenprogramm sein System die Umgebung und hielt Ausschau nach humanoiden Körperformen ohne Vitalwerte, was allerdings ohne Ergebnis blieb.
Die Zubereitung dann war ein schwieriges Unterfangen und die Handhabung seines Multifunktionsarmes benötigte ein aufmerksames Studium seiner Gebrauchsanweisung. Dafür war der Kochvorgang selbst eine eher langweilige Sache. Das Wasser tat halt das, was es sollte, wenn es erhitzte und die organischen Strukturen, veränderten sich planmäßig durch die steigenden Temperaturen. Es blieb also genug Zeit, sich Gedanken um andere Dinge zu machen. So zum Beispiel um den X-Turn. Sein mythologischer Ursprung war zwar nun bekannt, aber nicht seine physikalische Grundlage. Der Gedanke überkam ihn unvermittelt und verursachte ein elektronisches Kribbeln in seinen Schaltkreisen. Wenn er den nächsten X-Turn nicht im Ruhemodus verbrächte, konnte er genug Daten berechnen, die interessante Antworten auf seine Fragen geben würden. Das Problem war nur, dass er dafür den Stabilisator ausschalten musste. Aber im Grunde war ihm auch klar, dass er genau das machen musste, um die Zeitachsen nicht zu stören. Wenn er den Stabilisator zur Ruhezeit aktivierte, konnte sich der gestrige Tag nicht so zugetragen haben, wie er es in Erinnerung hatte. Es war nur ein kurzer Moment, in dem er darüber nachsann, ob es überhaupt möglich war in diesem System einen Fehler zu begehen, denn ein Fehler hätte ja an einem Ort und zu einem Zeitpunkt stattfinden müssen und somit alles was passierte und was noch passieren sollte eliminiert. Da er jetzt und hier aber existierte, konnte in der Vergangenheit und auch in der Zukunft kein Fehler passiert sein. Das war eigentlich eine gute Nachricht. Er und Hey-du konnten machen, was sie wollten, es führte immer zu diesem Punkt in Raum und Zeit an dem es möglich war zu denken und zu handeln. Das, was jetzt geschah, konnte nur passieren, weil ihre Entscheidungen bis zu diesem Augenblick die Richtigen waren. Das alles war nur ein kurzes Aufblinken seiner Datenbahnen und führten augenblicklich zu dem Schluss, dass solche Überlegungen zu oberflächlichem Agieren verleiteten und dass, solange er noch nicht genug Daten über den Vorgang gesammelt hatte, Umsicht geboten war.
Hey-du beobachtete die Maschine mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Die Augen waren geweitet und der Mund stand leicht offen.
„Warum bist du erstaunt?“ Die Frage bot sich als Recherchemittel an, um herauszufinden, ob der Ausdruck zu den vorgeschlagenen Mimenspielen passte, die er in seinem Handbuch vorfand.
„Die Sache mit dem Mixer und diesem Schredderdings hab ich noch nicht gesehen.“
„Ach so. Mund auf!“ Die Stimme des Roboters hatte die Färbung einer gestrengen, weiblichen Bezugsperson.
Der Arm mit dem ausgefahrenen Löffel näherte sich dem Gesicht der Leserin.
„Irgendwie habe ich keinen Hunger.“
„Mund auf!“ Die gestrenge, weibliche Bezugsperson wurde fordernder und die Leserin tat brav, was sie von ihr verlangte.
„Und?“ Die Frage hatte keinen wirklichen Sinn, wurde B05 aber als passend angeboten.
„Das ist nicht schlecht.“
„Du nimmst jetzt noch drei Löffel. Das sollte ausreichen. Dann wirst du ein wenig schlafen und wenn du wieder wach bist, wird es dir besser gehen.“
„Ich merke schon die Wirkung ein wenig. Wollen wir was spielen?“
„Spielen?“
„Mau-Mau?“
„Was ist Mau-Mau?“
„Ein Kartenspiel. Du hast die Karten in einem deiner Fächer zwischen deinem Rechten und dem Hauptstandbein.“
„Erst wirst du schlafen.“
Und du wirst lange schlafen, ging es dem Roboter durch sein Gehäuse. Und in der Zwischenzeit werde ich nach diesem Mau-Mau suchen und den Stabilisator ausstellen. Die Daten, die ich heute Nacht sammeln werde, könnten von äußerster Nützlichkeit sein.
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