Kapitel 7 oder 6 (X-Turn L) Wenn der unbekannte Verlust zum Verlust wird
- claudia_roman

- 1. Juli 2020
- 16 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Mai 2024

B05/47
konnte seine Verwirrung nur schwer unterdrücken, als sein Betriebssystem aus dem Ruhemodus hochfuhr. Er erinnerte sich an den Blick seiner Begleiterin, als er gestern in seinem Versteck erwachte. Wäre der Erkundungsroboter aus Fleisch und Blut gewesen, hätte er in diesem Augenblick sicherlich den gleichen Gesichtsausdruck verwendet.
War „verwendet“ denn für die Nutzung der Gesichtsmuskeln in so einer Situation überhaupt das richtige Wort? Sie wurden doch eher von Instinkt und Reflex gesteuert und nicht von einem bewussten Willen. Es war die Reaktion auf Dinge, denen man sich sinnlich nähern musste. Und das war ihm naturgemäß nicht möglich. Dennoch weckte dieses Gedankenspiel seine Neugier.
Zumindest war es in diesem Augenblick das Interesse seiner Subschaltkreise.
Seine Hauptwahrnehmung versuchte, die Umgebung zu identifizieren und einzuordnen, um daraus Handlungsanweisungen zu generieren.
Er erinnerte sich an das Schiff und dass ihn etwas in das Unterdeck zog. Er konnte sich auch noch an die Wesen erinnern, die über ihn herfielen. Von ihren Gesichtern, von ihren Händen und Armen hing das Fleisch in Fetzen und die Zeit hatte nicht nur an ihrem organischen Gewebe genagt, sondern auch an den Stoffen, die sie trugen. Durch die Löcher und Risse schimmerten die Knochen. Es war alles in allem kein erfreulicher Anblick. B05 hatte darauf verzichtet, seine Kamera auszuschalten. Den Nutzen, den die Analyse der Bilder später zu haben vermochte, musst er über sein eigenes Wohlbefinden stellen. Darauf war er programmiert.
Sie schienen sein Bewusstsein zu riechen, waren jedoch von seiner anorganischen Beschaffenheit verwirrt. So verloren sie bald das Interesse an ihm.
Als er von der Schiffswand abprallte, gegen die sie ihn schleuderten, musste der Ruhemodus aktiviert worden sein. Er sah zwar noch die Anhäufung von Kanonenkugeln, auf die er zufiel, dann aber legte sich die Finsternis über seine Sensoren.
Das war in seinem Gestern.
Seine Begleitung war wieder einmal nicht anwesend.
Es war eine Computerladestation und er war umringt von Adaptern, Ladebatterien und Halterungen für Maschinen aller Bauarten. Er betrachtete den Raum und kam zu dem Ergebnis, dass es hier Anschlüsse für genau 176 Maschinen gab. Von diesen Plätzen waren 43 belegt. Die Ausdehnung der Ladeeinrichtung legte die Vermutung nah, dass er sich in einer der Kugelstädte befand. Zur Bestätigung dieser Vermutung ließ er seine anwesenden Kollegen durch die Datenbank analysieren und erhielt ein anderes Resultat. In den Kugelstädten ist die zweitunterste Ebene für die Instandsetzung und Aufladung der künstlichen Hilfskräfte vorgesehen. Nicht die einfachen primitiven Geräte, wie Staubsauger, Standroller oder Lebensmittelautomaten, sondern die komplexeren Einheiten, mit und ohne Bewusstsein, erhielten hier die spezielle Wartung und Pflege. Dort befanden sich in erster Linie Erkundungsroboter, wie er selbst einer war. Es gab auch Spielmodule, die weder Bewusstsein noch ein einfaches Selbstlernprogramm hatten. Sie waren für Unterhaltungszwecke für den Außeneinsatz konstruiert und nur aus der Stadt selbst zu steuern.
Und natürlich waren dort auch die Überwachungsgeräte der untersten Gefängnisebene zu finden.
Dass von den 43 Maschinen, in diesem Moment 16 dieser Gefängnisroboter hingen, war im Bereich des Üblichen. Allerdings war der Rest seiner anwesenden Kollegen nicht von der Art, die man in einer Kugelstadt auffinden konnte. Es waren Ernteroboter, kleine wendige Gerätschaften mit eigenwilligem Habitus und Standesdünkel, die sich nur in Notfällen in ihre Ursprungsstadt zurückzogen. B05 bezweifelte, dass das hier der Fall war. Dafür war der Raum nicht genug ausgelastet. Es bestand demnach kein Zweifel: Er befand sich auf einer Plantage. Aber um was für eine Plantage es sich handelte, wie er hierher gekommen war und wo sich Hey-du aufhielt, konnte er nicht berechnen.
Die Schleusentür zischte und die Zusammensetzung der Luft, die in den Raum strömte, gaben dem Erkundungsroboter schließlich die Informationen, die er brauchte.
Er befand sich also auf einer Summkrautplantage und nun wurde dem Roboter klar, dass sich Hey-du in ernsthaften Schwierigkeiten befinden musste.
B05 sah einen dieser Überwachungsroboter auf ihn zufliegen. Er war von einer Bauart, die ihm gestern schon mal begegnete, nur war dieser hier unbeschädigt,
Was der Erkundungsroboter dann tat, war töricht! Mehr noch, es war so unüberlegt, dass es fast an menschliches Verhalten grenzte. Er hob seine Waffe und schoss.
Der Strahl traf einen Arm und riss ihn aus seiner Verankerung. Der Alarm, der daraufhin durch den Raum schrillte, ließ die anderen Überwachungsroboter erwachen. Der Reihe nach schalteten die Lichter ihrer Kameras auf Betrieb und im Bruchteil einer Sekunde, starrte B05 in die Münder von 16 Waffensystemen.
„Alles in Ordnung, Leute!“, hörte er hinter ihnen die Maschine schnarren, die er beschossen hatte. „Legt euch wieder hin. Unser Kollege hat eine kleine Fehlschaltung. Er reagiert immer über, wenn man ihn unvermittelt aus den Ruhemodus reißt.“
Das schien als Erklärung zu genügen. In synchroner Präzession fuhren seine Angreifer ihre Waffen ein und legten ihre Arme in Position. Sie begaben sich zurück auf ihre Plätze und schalteten nacheinander ihre Kameras aus.
„Kannst du mir mal sagen, was das sollte, du Spinner?“
B05 schwieg. Ihm fehlte eindeutig das Wissen, das er erst morgen erhalten sollte.
„Ich wusste, dass du nicht so ganz knusper bist, aber das war nun wirklich unterste Schublade. So! Jetzt hebst du meinen Arm auf und hilfst mir dabei, mich zu reparieren. Dann lösche ich die Erinnnerungskarten meiner Kollegen. Schließlich braucht keiner zu erfahren, dass du schlecht geträumt hast. Außerdem wird es dich freuen, dass ich die Informationen habe, nach denen du gefragt hast.

Die Leserin
hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Einige der Bewachungsroboter machten sich einen Spaß, den einen oder anderen Häftling mit einem Stromschlag aus dem Schlaf zu reißen. Hey-du blieb zwar diese Spezialbehandlung erspart, aber die Schreie und die Unruhe, die daraufhin folgte, verhinderten, dass sie in den Schlaf fand. Außerdem schmerzten ihre Glieder von der schweren Arbeit und die Enge der Schlafstelle tat ihr Übriges. Sie war es nicht gewohnt sich mit vier schwitzenden, röchelnden Menschen ein Ruhelager zu teilen. Das war mit Sicherheit nicht gesund. Und zu allem Übel schnarchte eine ihrer direkten Nachbarinnen. Zumindest war die Luft hier drinnen so warm und trocken, dass sie die Feuchtigkeit aus ihren Kleidern getrieben hatte.
Wenn sie es irgendwie einrichten konnte, sollte sich diese Nacht nicht wiederholen. Sie brauchte dazu allerdings die Hilfe ihres mechanischen Freundes. Der hatte einen anderen Status in dieser Umgebung und Hey-du wusste, dass das ihre einzige Chance war, aus dieser Situation zu entkommen. Sie holte sich den gestrigen Tag in Erinnerung und hoffte, dass sie nichts Wesentliches vergessen hatte. Es war sehr hektisch gewesen und B05 musste seine Nachricht verschlüsseln, um keinen Verdacht zu erwecken. Die Leserin überlegte einen Moment, ob es kein Vergehen gegen eines der X-Turn-Gesetze war, wenn sie auf Informationen zurückgriff, die sie erst morgen wissen konnte. Aber nein! Es war eher so, als stützte sie ihr Handeln auf die Prognose einer Instanz, die die Wahrscheinlichkeiten von Phänomenen präzise vorhersehen konnte. Dass es für B05 gelebte Vergangenheit war, brauchte die Leserin nicht zu interessieren. Sie hatte einmal gelesen, dass das Gehirn nicht zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden kann. Deshalb bekam man beispielsweise Herzklopfen, wenn man an seinen geliebten Partner dachte, auch wenn er physisch gerade nicht anwesend war. Es könnte doch sein, dass bei der Bewertung von Vergangenheit und Zukunft ein ähnlicher Mechanismus greift. Schließlich findet das, was wir auf uns zukommen sehen und das, was bereits hinter uns liegt, nicht in der Welt, sondern im Kopf statt.
Ein Signal schrillte durch die Schlafhalle. Es benötigte keine aktive Gewalt der Überwachungsroboter, um die Dissidenten von ihren Pritschen aufspringen zu lassen. Die Leserin war über die Agilität seiner Schlaflagerkameradinnen erstaunt. Sie sprangen von der Lagerstelle, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich wieder zu ihrer Arbeitsstelle aufbrechen zu können. Die Leserin hatte Mühe, sich überhaupt aufzurichten. Sie kam aus dem Staunen nicht heraus, als sie sah, wie sich die Menschen an einer Stelle in einer dichten Traube versammelten und ihre Hände durch das Gitter streckten. Sie war mittlerweile die einzige in diesem Raum, die noch immer auf dem Bett saß. Sie quälte sich auf die Füße und schlurfte dem Gitter entgegen. Durch die Menge erkannte sie einen rollenden Kastenroboter, der aus seinem Inneren nacheinander flauschige Päckchen zog und sie in die ausgestreckten Hände legte. Eine der Mitgefangenen drängte sich an Hey-du vorbei. Ihre Fäuste waren an die Brust gedrückt und etwas zappelte zwischen ihren Fingern. Die Übelkeit, die in der Leserin hochkroch, verband sich mit einem kalten Schauer, als sie sah, dass dieser Mensch sein Gebiss in einen quietschenden Fellball schlug. Rote Flüssigkeit rann aus ihren Mundwinkeln. Sie zog Fäden zwischenden Zähnen, als sie das Wort an die Leserin richtete. „Musst dich beeilen, sonst gibt es heute für dich nix mehr.“
„Das macht nichts. Ich habe keinen Hunger.“
Die andere lächelte, als habe sie sie durchschaut. Ihr Grinsen wirkte mit dem Blut, das über das Kinn rann, wie aus einem schlechten Horrorfilm. „Das wird sich noch ändern. Das kannst du mir glauben.“
Die Leserin bezweifelte das und schwieg.
. Sie saß auf ihrem Bett, den Kopf zwischen die Knie versteckt, damit sie nicht sehen konnte, was um ihr herum passierte. Sie wollte nicht wissen, welche Wesen in dieser Halle verfrühstückt wurden, aber sie hörte ihr Todesquieken, durchmischt vom Brechen der Knochen, vom Knirschen der Zähne und vom Schmatzen und Schlürfen.
Der Geruch von Blut und rohem Fleisch war eine Herausforderung für den Magen der Leserin, die mit aller Macht ihrem Gehirn den Befehl gab, an Blumenwiesen und Südseestrände zu denken.
Irgendwann erlöste sie die Sirene. Wie bereits am Vortag, stellten sich die Gefangenen paarweise nebeneinander auf die Leuchtmarkierungen im Boden. Wie alle anderen, senkte Hey-du ihren Blick, sodass sie nur auf die Beine ihrer Vorgänger schauen konnte. Einige Zeit später ertönte ein weiteres Signal und die Markierungen blinkten in Laufrichtung auf. Entlang des Ganges zu den Fahrstühlen wurde es Hey-du wieder bewusst, wie sich dieser Ort von der Stadt unterschied, die sich in dem Kugelgebilde ausdehnte. Trotz der physischen Wärme und obwohl Hey-du den Blick zu Boden hielt, durchströmte die Umgebung eine sterile Kälte. Es gab hier außer ihnen keine Menschenseele. Mehr noch, abgesehen von ihnen und dem „Frühstück“, schien nichts Organisches in dem Aufbewahrungstrakt zu existieren.
Hey-du schielte zur Seite und bemerkte einen der Bewachungsroboter. Sie wartete, bis er an ihnen vorbeigeglitten war.
Dann richtete sie die Frage an die Nachbarin zu ihrer Linken: „Was passiert jetzt?“ Sie versuchte, die Stimme so zu senken, dass sie im Schlurfen der Schritte unterging. Allerdings machte die andere Person keine Anstalten darauf zu antworten.
Na gut, ich werde es eh bald erfahren. Und ohne es zu wollen, setzte sich eine andere Gedankenkette in Bewegung. Wo B05 wohl gerade ist? Ob es ihm gut geht? Ob er weiß, was er zu tun hat? Die wenigen Worte, die sie gestern mit ihrem anorganischen Freund wechseln konnte, ließen Raum für jede Art von Spekulation. Sie musste sich anstrengen, um sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Es war etwas mit Sektion 0/Ausgabe C in der sie sich einfinden sollte. Das war leichter gesagt, als getan. Sie hatte nicht die Wahl, sich irgendwo einzufinden. Die leuchtenden Linien gaben den Weg vor und konnten nicht ignoriert werden, dafür sorgten schon die Roboter.
An der Balustrade vor den Fahrstühlen endete das Leuchtsignal.
Aus den Lautsprechern zwischen den Türen surrte eine Roboterstimme: „Bitte legen Sie die Hand auf den Sensor, mit der Handfläche nach unten und begeben Sie sich in den Fahrstuhl, dem Sie zugewiesen wurden.“ Hey-du hatte immer noch die Augen zu Boden gerichtet und hörte ein Summen. Wenige Augenblicke rasselte dann erneut die Roboterstimme durch den Gang: „Dissident 24673854, bitte in Fahrstuhl Sektion 3. Dissident 24675322, bitte in Fahrstuhl Sektion 5.
Das Prozedere wiederholte sich einige Male, bis Hey-du selbst vor der Balustrade stand, in die ein Drehkreuz eingelassen war. Das Scanngerät war daran in Hüfthöhe angebracht und zeigte eine Hand in einem anthrazitfarbenen Kreis. Sie brauchte die Anweisung des Roboters nicht, um zu wissen, was zu tun war.
„Dissident 24667896.“ Ertönte die Stimme aus den Lautsprechern. Damit war ihre Nachbarin gemeint. „Bitte in Fahrstuhl Sektion 5!“. Und nach einer kurzen Pause: Dissident 24679765, bitte in Fahrstuhl Sektion 4“. Beide versuchten nun, das Drehkreuz zu passieren, doch es ließ sich nicht bewegen. Stattdessen drang ein Knistern aus den Lautsprechern, dem wieder die Stimme folgte: „Tut mir leid, es gab eine Berichtigung: Dissident 24679765, bitte Fahrstuhl Sektion 0.“
„Du liebe Güte!“ Ihre Nebenfrau schien sich nun doch zu einer Äußerung hinreißen zu lassen. „Du musst ja wirklich von jemanden echt gehasst werden. Gerade frisch und schon Sektion 0. Tut mir leid, aber du solltest dir keine große Hoffnung machen, diesen Tag zu überleben.“
Mit diesen Worten zum Geleit und eine Flut von Befürchtungen betätigte Hey du das Drehkreuz und folgte dem Blinken der Bodenbeleuchtung dem Fahrstuhl entgegen.

B05/47
überlegte.
Es war nun sehr deutlich, dass der Roboter, der ihm gerade seine Kameraden vom Hals gehalten hatte, auch der war, mit dem ihn keine guten Erinnerungen verbanden. Es war kompliziert. Er hatte keine Ahnung, was für wichtige Informationen diese Maschine für ihn bereit hielt. Doch er konnte nicht einfach einen Erinnerungsverlust vortäuschen, um sich seine zukünftige Strategie erzählen zu lassen. Erstens war er nicht darauf programmiert zu lügen und zweitens konnte das zu fatalen Konsequenzen führen. Man konnte auf die Idee kommen, seinen Erinnerungsspeicher zu kontrollieren, um den Grund für seinen Gedächtnisausfall herauszufinden. Und dabei ging es nicht nur, um das Auffliegen eines Schwindels. Jeder, der außerhalb der beiden Reisenden von der Existenz des X-Feldes Kenntnis erhielt, erhöhte die Gefahr seines Zusammenbruchs. Das war ein weiteres Gesetz, dass er in seinem Speicher entdeckte.
„Erzähl!“, forderte er die andere Maschine auf. Das erschien ihm der sicherste Schritt.
„Erst musst du mir den Arm wieder anschweißen!“
„Ich muss dich darauf hinweisen, dass ich nicht die Fähigkeiten eines Präzessionskonstrukteurs besitze. Willst du nicht lieber einen Reparaturauftrag einreichen?“
„Und was soll ich da angeben? Dass sich bei dir ein Schuss gelöst hat, lässt sich noch erklären, aber die Frage, was ich hier entgegen meinem Auftrag zu suchen hatte wohl kaum. Nein, das machen wir schön selber. Es ist eh nur der Waffenarm.“
B05 konnte sich in letzter Nanosekunde davon abhalten, ihn darauf hinzuweisen, dass ein defekter Waffenarm für einen Überwachungsroboter in einer Dissidentenplantage ein ernstes Problem darstellte.
„Die haben heute den Code geändert. Du musst meine ID 348-74 und danach die Tastenfolge WQRST in die Kontrolltastaturen der Gebrauchsgegenstände eingeben.“
„Ich verstehe. Das ist die aktuelle Überbrückungsnummer.“ Auch dazu konnte B05 einige Sätze in seiner Datenbank finden. Es ist eine Überbrückungsnummer, die eine Benutzung von Nutzgegenständen und sogar einigen Türen ermöglicht, ohne dass eine Registrierung notwendig ist und wurde unter anderem entwickelt, um das Nutzungsprozedere abzukürzen und den Zentralcomputer zu entlasten. Der Hauptrechner in der Kuppelebene der Stadt, der diese Plantage anhing, hatte nicht nur sie, sondern auch die Steuerung der Kugelstadt selbst zu verwalten. Natürlich war es nicht notwendig den Gebrauch jedes Schweißgerätes in Echtzeit zu genehmigen. Um eine Benutzung aber dennoch nachvollziehen zu können, gab es Tastenfolgen, die sich in variierenden Zeitabfolgen änderten.
„Bist du sicher, dass du mir deine ID zur Verfügung stellen willst? Bekommst du dann keinen Ärger?“
Sein Gegenüber schien in einer Analyse dieser Fragen vertieft. „Ich bin erstaunt“, sagte es schließlich. „Du bist auf die Formulierung von rhetorischen Fragen programmiert. Zu welchem Zweck?“
B05 reagierte prompt: „Eine Schnapsidee meines Programmierers.“
„Das erklärt einiges. Wenn wir später auf der Flucht sind, musst du mir alles über diesen Programmierer erzählen und über diesen Menschen, mit dem du hierher gekommen bist. Aber jetzt lasse uns beginnen und ich erzähle dir, wo sich die zivile Kleidung deiner Freundin befindet und was du tun musst, um die Sachen zu erhalten. Die Versetzung in die Sektion 0 habe ich bereits eingerichtet. Alles läuft nach Plan.“ B05 schwieg. Alle Berechnungen der Situation und der Worte dieses Überwachungsroboters führten zu ein Resultat, das kein gutes Licht auf ihn und einen Schatten auf die Zukunft dieser Maschine warf. Diese Erkenntnis kollidierte mit der Faktenlage und erzeugten eine Disharmonie zwischen dem Handlungszwang und dem Handlungswillen. Er hätte es als Gewissenskonflikt interpretiert, wäre er auf diese Empfindungen eingestellt worden. Doch Programm oder nicht: Es fühlte sich scheußlich an.

Die Leserin
„Brauche ich keine Einweisung?“ Hey-du richtete ihre Worte an den Menschen, der hinter dem Tresen der Schutzbekleidungsausgabe saß. Es war in der Tat ein Mensch und kein Roboter. Auch er trug einen Dissidentenoverall. Hey-du fragte sich, ob es sich bei dieser langweiligen Aufgabe, die ohne Probleme von einer Elektronik ausgeführt werden konnte, um eine Strafe handelte. Der Gesichtsausdruck des Mannes ließ das vermuten. Er schwieg, legte einen in Folie eingeschweißten Overall auf den Tresen und nickte in die Richtung einer Tür zu seiner Rechten.
Es war keine Tür im wörtlichen Sinne. Es war vielmehr eine vorgewölbte Stahlwand, die sich beim Öffnen nach unten drehte. Sichtbar wurde ein Eintritt, der auf eine, diesmal nach außen gewölbte, Metallgrenze blicken ließ.
Hey-du konnte ihr Unbehagen nicht unterdrücken, als sie in diese Röhre trat. Der Overall an ihrem Arm ergab sich unbarmherzig der Schwerkraft. Durch die Folie schimmerte die Wattierung des Stoffes und erinnerte Hey-du ein wenig an die Raumanzüge der ersten amerikanischen Weltraummissionen. Sie überlegte noch, welche Probleme ihr das Ankleiden bereiten mochte, als der Ausgaberaum hinter der Blechwand verschwand. Einen Augenblick war es stockdunkel, dann senkte sich die Wand hinter ihr und ein bläuliches Licht drängte sich in die Schleuse. Hey-du drehte sich um und blinzelte in einen Raum, der die Form einer Halbkugel hatte. Der Zweck dieser Räumlichkeit erschloss sich ihr nicht. Das obere Segment bestand aus Glas und ließ den bläulichen Schimmer der Außenwelt direkt auf den Sessel in seiner Mitte fallen. Dieser Sessel war nicht nur das einzige Möbelstück, er war generell alles, was sich in diesem Raum befand. Lediglich das Schattenspiel, das der Nebel an die Mantelfläche warf, die schmucklos bis zum Glassegment hochzog, bot dem Auge etwas Abwechslung.
„Seien Sie gegrüßt Dissident 24679765.“ Mit der gewohnt kalten Freundlichkeit erfüllte die Computerstimme den Raum. „Bitte begeben Sie sich zu dem Sessel. Dort werden Sie eine Einführung in die Arbeitsprozesse im Segment 0 erhalten und Ratschläge, die Ihnen das Überleben so lange wie möglich gewährleisten.“ Hey-du bewegte sich auf den Sessel zu. „An der Rückseite des Sessels ist eine Halterung, über die Sie Ihren Schutzanzug hängen können. Wenn Sie bereit sind, setzen Sie sich in den Sessel, um das Programm zu starten.“
Tatsächlich entdeckte Hey-du die beschriebene Vorrichtung und war froh, das Gewicht des Overalls abgeben zu können. Das Gefühl, von einer Last befreit zu sein, hielt nicht lange vor. Kaum war sie in der Sitzfläche versunken, legte sich ein Stahlring um ihren Kopf und drückte sie gegen die Rückenlehne. Hey-du konnte weder den Schmerzensschrei noch den deftigen Fluch, der ihm folgte, unterdrücken. „Verzeihen Sie die Unannehmlichkeit. Seien Sie versichert, dass wir bemüht sind das Prozedere so schmerzfrei wie möglich zu gestalten. Allerdings benötigen wir für Ihren ersten Einsatz einige Parameter, unter anderem um den Helm, den Sie die nächsten sechzehn Stunden zu tragen haben, Ihren biologischen Voraussetzungen gemäß anfertigen zu können. Während der Berechnungen, die mit einigen schmerzhaften Belastungstests einhergehen, werden sie einen Film zu sehen bekommen, der Sie mit den Arbeitsabläufen bekannt macht. Im Anschluss daran erhalten Sie eine Einschätzung, wie lange Sie in der Sektion 0 überleben werden. Daraufhin wird sich der Sessel mit Ihnen in den Umkleidebereich senken und Sie werden sich...“ Ein Knacken und ein sphärisches Knistern drang durch den Raum. Dann setzte die freundliche Computerstimme ihre Erklärungen fort. „...direkt an den Überwachungsrobotern vorbei zur Ausgabe C bewegen. Nicht vergessen, das ist ganz wichtig! Ausgabe C! Nicht A und nicht B! Ausgabe C ist die Ausgabe, zu der Sie sich begeben sollen und die Ausgabe, zu der Sie sich begeben sollen ist C. Ausgabe D kommt überhaupt nicht in Frage...“
Hey-du hätte den Kopf geschüttelt, wenn der nicht durch den Stahlring fest in die Rückenlehne gedrückt worden wäre. „Was soll das?“, flüsterte sie.
„Haben Sie keine Angst vor den Überwachungsroboter,“ fuhr die Stimme fort, „die werden Ihnen nichts tun. Sie werden Ihnen vielleicht sogar den Weg zur Ausgabe C verraten, wenn Sie lieb fragen. Aber vertrauen Sie keinem dieser Geräte, wenn er Sie zu Ausgabe A, schicken will und auch Ausgabe B ist nicht akzeptabel. So, ich habe nun noch ungefähr 30,231 Sekunden. Solange hätte dieser dumme Einweisungsfilm gedauert. Der ist langweilig. Ich weiß das, denn er läuft gerade in meinem Betriebssystem im Hintergrund. Und wirklich wenig informativ. Es sei denn, man interessiert sich für die Summkrauternte. Das jedoch sollte in einer anderen Geschichte behandelt werden.“
B05? Der Gedanke drängte sich in das Bewusstsein des Menschen.
„Also zu guter Letzt:“ Es ertönte eine Fanfare. „Zu welcher Ausgabe sollen Sie sich begeben?“
Es löste sich eine kreisrunde Fläche, in deren Mittelpunkt sich der Sessel befand und Hey-du versank im Boden. „Ausgabe C?“
Hey-du konnte ihr Unbehagen kaum kontrollieren, als sie an den Überwachungsrobotern vorbei, zur Ausgabe C schlich. Wieder geleiteten sie die blinkenden Spuren auf dem Boden durch einen langen Gang. Neben den Leuchtspuren wurde er durch Leuchtröhren erhellt, die in Halbbögen an seinen Wänden angebracht waren. Fenster gab es keine, nur hin und wieder verzweigte sich auf der rechten Seite ein Gang mit dem Hauptgang. Aus einem dieser Nebenwege schlenderte eine Gestalt und gesellte sich zu ihr. Hey-du wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Der Mann neben ihr musterte sie von der Seite. „Neu?“, flüsterte er.
Hey-du nickte. Die Line mit der Beschriftung Ausgabe A knickte nach links.
„Welche Sektion?“
Mist, dachte Hey-du. Hoffentlich fliegt mir das Ding jetzt nicht um die Ohren.
„Null!“, raunte sie dem anderen zu, in der Gewissheit, dass das nicht die Information war, nach der seine Begleitung gefragt hatte. Und wirklich: Aus den Augenwinkeln sah Hey-du, wie sein Begleiter ein Glucksen unterdrückte. „Ich meinte mehr die Untersektion. Weißt du, hier ist das Leben wirklich sehr hart. Ich weiß das, ich bin sozusagen ein Überlebender.“ Er breitete seine Arme aus. Nicht auffällig, aber gerade so, um seine Wichtigkeit zu unterstreichen. „Weißt du, wenn du die ersten sechzehn Stunden an der Basis der Plantage halbwegs unbeschadet hinter dich gebracht hast, wächst deine Überlebenswahrscheinlichkeit auf 30%. Wenn du nach einer Woche noch lebst, steigt sie auf die Hälfte und nach einem Monat, muss es schon ein Schwanken im elektrischen Feld sein, das dir noch gefährlich werden kann.“
Vor ihnen gabelte sich der Weg und die Spur zur Ausgabe B verschwand zu ihrer Linken.
„Ich kann dir einen todsicheren Tipp geben, worauf du achten musst.“
Hey-du überlegte. Sie hatte gehört, dass die Arbeiten direkt im elektrischen Feld zu der Art von Strafe gehörte, die man umgehen sollte, wenn man das Ende seiner Haftzeit erleben wollte. Sie wusste, dass sie alles erduldet hatte, was hinter ihr lag und dass nichts eine derartige Versetzung begründete. Sie war sich sicher, dass sie ursprünglich in Sektion 4 eingeteilt gewesen war und sie hatte B05 in Verdacht, für die Änderungen gesorgt zu haben, um ihre Flucht zu ermöglichen. Er plante also etwas. Dennoch konnte es nicht schaden Informationen für das Überleben in einem elektronischen Feld zu erhalten. Sie wusste ja nicht, wohin die Reise noch gehen sollte.
„Ich höre“, flüsterte sie.
Ihre Begleitung sah sich um, aber kein Überwachungsroboter kreuzte ihren Weg.
„Ich sollte dich aber warnen. Du bekommst die Infos nicht umsonst. Ich will die Hälfte deiner Nahrungsration und wenn ich das eine oder andere benötige, stehst du zu meiner Verfügung. Und glaube ja nicht, du kannst mich verarschen. Du möchtest mich nicht zum Feind haben.“
„Ist klar!“
„Okay! Also höre zu. Wenn du deine Schutzausrüstung angelegt hast, achte darauf, dass der Helm doppelt verschlossen ist. Die meisten legen ihre Sachen nicht richtig an. Das ist schon mal der erste fatale Fehler. Auf dem Feld dann arbeite bis zur ersten Unterbrechung so schnell du kannst. Es ist die Zeit in der du dich auch an die großen Summkräuter, die besonders viel Strahlung abgeben, heranwagen kannst. Nach der zweiten Unterbrechung arbeite dich an die mittleren Pflanzen heran.“
„Ich muss jetzt leider hier abbiegen. Das ist meine Ausgabe.“
Dem anderen wich die Farbe aus dem Gesicht. „Aber das ist Ausgabe C!“
Hey-du nickte.
Aber da geht es in den Außenbereich. Diese Ausgabe ist für Außendienstler oder Abenteurer. Sie ist nicht für Dissidenten vorgesehen.“
„Ich habe keine Ahnung, mir wurde dieser Bereich zugeteilt.“
Seine Begleitung schüttelte den Kopf. „Aber das macht keinen Sinn!“
„Hör mal. Bei der ersten Unterbrechung treffen wir uns bestimmt im Speisesaal, denke ich mir. Dann werde ich berichten und du bekommst die Hälfte meiner Ration.“
Der andere packte Hey-du am Arm und drückte zu. Hey-du stöhnte auf und der Overall rutschte aus ihren Händen.
„Hör zu, du Arsch! Wenn du jemanden von unserm Deal erzählst, bist du tot. Hast du verstanden? Ich kenne da nix. Gar nix!“
„Ich habe verstanden!“ Der andere ließ seinen Arm los und schlurfte von dannen.
Der Gang in den sie sich nun einfand, mündete ohne Umwege in eine Halle. An den Wänden waren Fächer angebracht, beschriftet mit den Nummern der Insassen. Dazwischen ließen die Fenster etwas Licht aus der Außenwelt in den Raum. Einige der Ablagen waren leer, in anderen hingen Helme und Schutzkleidung. Kein Mensch befand sich hier. Nicht zu übersehen war aber die agile Kugel, die von einer Seite zur anderen flog.
„Mann! Da bist du ja endlich!“ Das blecherne Fluchen betrübte die Wiedersehensfreude des Menschen in keiner Weise.
„Hallo, alter Schrottklumpen.“
„Spar dir die Höflichkeit, wir müssen jetzt so schnell wie möglich los. Es könnte sein, dass er die Überwachungsroboter wieder einschaltet. Die haben wir kurzzeitig deaktiviert.“
„Wer schaltet die Überwachungsroboter wieder ein?“
„Jemand, der uns gerne bei der Flucht begleitet hätte, aber für das X-Feld eine Gefahr dargestellt hätte. Nun ist er verärgert. Sehr verärgert.“
„Wer denn?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“ Er positionierte seinen Waffenarm auf ein Fenster. Trotz der Maximaleinstellung brauchte er eine Minute um das Glas zum Bersten zu bringen.
„Jetzt aber raus und rennen, Hey-du! RENNEN!“
„Wohin?“
„Bis zur Erschöpfung!“
„Das ist keine Antwort auf die Frage gewesen.“ Hey du folgte seinem fliegenden Freund aus dem Fenster, sorgsam darauf bedacht, sich nicht am Glasbruch zu verletzen.
„Doch, das war es und Hey-du?“
Der Mensch schaute auf.
„Wenn ich dich morgen frage, wer uns verfolgt, antwortest du: ‚die Behörden‘. Ist das verstanden?“
„Verstanden!“
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