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Kapitel 3 oder 10 - Allein Zeit entfaltet uns nicht, an diesem Ort zerreißt sie uns

  • Autorenbild: claudia_roman
    claudia_roman
  • 1. März 2020
  • 12 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Mai 2024


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B05/47

Er hatte keine Worte für das, was ihm widerfuhr. Die Dunkelheit spuckte ihn in einen Strom gellender Helligkeit. Er fiel einem Zentrum entgegen, das alle Farben zu einem blendenden Weiß verschmolz. Dabei war es gleichgültig, in welche Richtung er blickte. Jede Perspektive bot das gleiche Bild: Lichtstrahlen unterschiedlichster Färbung verbanden sich zu dreidimensionalen Strukturen. Sie verdichteten sich zu Strichen, vereinigen sich zu Kanälen oder weiteten sich zu breiten Schnellstraßen aus. Sie schlugen Wellen, zogen den Roboter durch scharfe Kurven oder drehten sich umeinander. Ihre Ränder wirkten ausgefranst und wurmartige Fäden flatterten durch das, was man einen Raum nennen konnte. Sie dehnten sich aus, rissen oder verendeten in einer Nebelspur. Hier und da zogen schwarze Filamente durch das Bild. Sie besaßen kaum Ausdehnung und wirkten wie Kratzer auf einem Bildschirm. Dennoch streckten sich ihnen einige der leuchtenden Ausfransungen entgegen und umwickelten sie wie Pflanzentriebe ihre Rankhilfen. Es wirkte, als ob sie so ihrem Fluchtpunkt zu entkommen versuchten. Die Fallgeschwindigkeit zog sie jedoch in die Länge, bis sie rissen und sich in schlingernde Schwelen auflösten.

Nach einer kurzen Zeit des Staunens – es mussten um die 0,00053 Sekunden gewesen sein –, schaltete B05 den Großteil seiner Kameras aus. Er merkte, wie die Berechnung der Umgebung seine Schaltkreise überlastete. Praktisch hatte jede einzelne seiner visuellen Vorrichtung einen eigenen Fluchtpunkt, auf den sich die Erscheinungen zubewegten. Das verursachte in ihm das Gefühl auseinandergerissen zu werden. Mit nur einer erkennbaren Fallrichtung war es einfacher, die Umgebung zu ertragen. Die schwarzen Sprünge weiteten sich und schwebten in ihrer Zweidimensionalität auf der Oberfläche des Raumes. Ihre Ausdehnung wurde markanter. Die einzelnen Fäden verzweigten sich und wurden stärker. Sie bildeten ein Spinnennetz, das sich verdichtete, bis es mit kraftvoller Gewalt die Umgebung auseinandersprengte. Er hätte die Teilchen zählen können, die auf ihn hinab rieselten. Es war eine beeindruckende Anzahl, doch etwas anders fesselte seine Sinne. Und nicht nur seine Sinne.

Er starrte in eine völlige Finsternis und war ihm nicht möglich, sich zu bewegen.


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Die Leserin

Sie steckte fest.

Ungleiche Wände und eine abflachende Decke hielten sie gefangen. Die Asymmetrie des Verschlages gaukelte eine Tiefe vor, die er nicht besaß. Hey-du konnte gerade einmal an seiner höchsten Stelle aufrecht stehen. Jedenfalls gelang ihr das zu Beginn. Doch dann bewegten sich die Wände auf sie zu. Schon bald musste sie sich hinsetzen, die Beine anwinkeln und all ihre Gliedmaßen eng an ihren Körper ziehen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als aus diesem schrecklichen Traum aufzuwachen.

Doch auch als es ihr gelang endlich die Augen aufzuschlagen, fand sie sich in dieser Haltung wieder.

Die Stahlwände pressten sich an ihren Leib und sie war nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu bewegen. Obwohl aus den Öffnungen genug Sauerstoff gelangte, bekam sie kaum Luft. Ihr Kopf klemmte zwischen den Beinen und nur mit größter Anstrengung gelang es ihr, den Brustkorb zu heben und zu senken.

Das Metall, aus dem ihre Unterkunft bestand, klebte an ihren Wunden und verursachte einen Schmerz, der sie an den Rand der Besinnungslosigkeit trieb. Sie bekämpfte mit aller Gewalt das Bedürfnis, sich zu übergeben.

Neben sich gellte eine Sirene. Der Ton brachte ihren stählernen Sarg in Schwingung und weiße Punkte spielten vor ihren Augen fangen. Ein Stöhnen drang durch ihre Kehle.

„B05?“ Die Worte quälten sich an ihren Stimmbändern vorbei. „Kannst du damit aufhören?“ Sie glaubte nicht, dass die Sensoren des Erkundungsroboters ihr leises Flehen wahrgenommen hatten und wie zur Bestätigung drang ein Alarm in einer anderen, nicht weniger unangenehmen Frequenz durch ihr Gefängnis. Die Leserin sammelte all ihre Energie und entlud sie in einer Explosion. Jedenfalls sollte es eine Explosion werden. Doch die Stimme, mit der sie sprach, war trotz der Anstrengung schwach und weinerlich. „B05!“

Jetzt erschall ein hysterisches Lachen und wieder drohten der Leserin die Sinne zu schwinden. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie wusste, der Roboter hatte eine diebische Freude entwickelt, mit seinen Soundeffekten herumzuexperimentieren, aber wieder einmal war der Augenblick alles andere als passend.

„Ist das nicht witzig?“, hörte sie B05 neben sich. Absolut nicht, dachte die Leserin.

„Hey, du? Falls du mich hörst: Ich stecke fest, aber mache dir keine Sorgen. Mir geht es gut.“

Sie versuchte es erneut und wieder kam nicht mehr als ein Flüstern über ihre Lippen: „B05, ich brauche Hilfe.“

Der Roboter hatte sie nicht gehört, natürlich nicht. „Ich versuche die Einstellung mit dem Laserschneider zu connecten“, plapperte die Maschine, und die Leserin fühlte die Verzweiflung in ihr wachsen. Sie wusste nicht, wie sie sich bemerkbar machen sollte.

„Ich habe gestern einige interessante Dinge in meinen Speichern gefunden und versuche, mir die Zeit zu vertreiben. Höre mal, wie findest du den?“ Diesmal drang ein Pupsgeräusch an sein Ohr und die Situation war so absurd, dass der Leserin, trotz der Qualen ein Lächeln übers Gesicht huschte.

Es folgten noch zwei weitere Töne, der Laut, der entsteht, wenn jemand mit den Fingern die Lippen bewegt und das Mauzen eines Kätzchens, dann war endlich der Eisenschneider zu vernehmen und der Geruch nach schmelzendem Metall zog durch die Luft. Es folgte ein Scheppern und ein entfesseltes Aufheulen der Triebwerke ihres Freundes.

„Hey du?“, hörte sie den Erkundungsroboter über sich. „Wo bist du?“

Hier, dachte die Leserin.

„Wo sind wir überhaupt? An diesem Ort waren wir gestern noch nicht.“

An diesem Ort sind wir morgen nicht, dachte die Leserin. Ein Gedanke, der ihn nicht zum ersten Mal beruhigte. Was auch geschah, es war nicht ihr Ende. Und solange es ein Morgen für sie gab, bestand noch Hoffnung.

Dann verlor sie endgültig das Bewusstsein.

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B05/47

Er war in alberner Laune.

Das Spiel mit den Geräuschen verursachte ein Kribbeln, das durch seine Schaltkreise ging und sich nicht durch die Impulse seiner Logikgatter erklären ließ. Er führte einen inneren Kampf, fast so, als bestünde er aus zwei verschiedenen Persönlichkeiten. Der andere B05 beschäftigte sich nicht mit der Berechnung von notwendigen Schritten. Er folgte dem Verlangen nach Absurdität und Widersinn, denn dieses Kribbeln bereitete ihm Vergnügen. Ihm war bewusst, dass er als Maschine für solche Empfindungen nicht konstruiert war, aber dieses Gefühl ließ sich nicht verhindern. Im Gegenteil verstärkte es sich, wenn er sich ihm mit kalkulierter Präzision näherte. Es war, als streckte es seinem anderen Ich, die Zunge heraus.

In dieser albernen Laune betrachtete B05 die Umgebung. Sein Blick schweifte über die vertrauten Schrottinseln. Allerdings war an diesem Ort mehr Geröll als Gewässer und auch die Stege waren verschwunden. Es gab keine Nebelschwaden, die über die Welt zogen. Lediglich ein gleichmäßiger Dunst legte sich auf die Umgebung.


Wo war nur diese Hey-Du-Menschen-Ding?


Der Roboter mochte es sich kaum eingestehen, aber in den letzten Stunden hatte er sich an den Menschen gewöhnt und der Gedanke, alleine und ohne Auftrag durch die Außenwelt zu fliegen, bereitete ihm kein Vergnügen. Er wusste noch nicht einmal, wo seine Basis war. Es gab in der Tat die eine oder andere fragmentarisch aufblitzende Erinnerung, aber sie war viel zu vage, ihm etwas über seine Herkunft zu verraten.

„Hey du? Wo bist du?“

Er probierte noch das eine oder andere Geräusch durch und erfreute sich, an seiner Nutzlosigkeit. Dann schaltete er die Infrarotsuchfunktion ein. Er fand einige organische Wärmequellen, aber sie hatten weder die Form noch die Größe seiner Freundin. Wo war sie nur?

B05 flog in kreisenden Bewegungen höher, um das Sichtfeld auszuweiten. Dabei ließ er eine Sirene ertönen.

Er stoppte seinen Flug, bevor ihm der Nebel die Sicht über den Boden nahm. Bis in die Tiefe des Raumes war nichts Auffälliges zu erkennen. Diese Einsicht verdrängte das angenehme Vibrieren seiner Schaltkreise. Er war also allein. Was für ein unspektakulärer, simpler Schluss! Doch so nüchtern, wie er es gerne gehabt hätte, war diese Feststellung nicht. Sie setzte eine Kette von Überlegungen in Gang, die nichts mit der besonnenen Analyse seiner Möglichkeiten gemein hatte. Sie erzeugten ein anderes Kribbeln in seinen elektronischen Nervenbahnen als es die Signale vor wenigen Augenblicken noch taten. Sie hatten eine ähnlich irritierende Wirkung auf seine Denkweise, waren aber alles andere als angenehm. Die Kreise, die er in der Höhe über dem Boden zog, änderten sich beständig. Mal driftete er in eine Ellipsenform und mal trudelte er in Spiralen dem Mittelpunkt seiner Flugbahn entgegen. Wie ein Kreisel verlor er dabei die Kontrolle über seine Achsenausrichtung und konnte sich nur mit Mühe in der Luft halten. Es war eine Ironie des Schicksals, dass er ausgerechnet in den Augenblicken, in denen er glaubte, die Kontrolle über seine Flugfähigkeit zu verlieren, am Boden eine größere Wärmequelle wahrnahm. Sie war direkt unter ihm. Es war demnach nicht verwunderlich, dass er sie erst jetzt erkannte.

Augenblicklich schlug das Kribbeln seiner Schaltkreise wieder in die andere Richtung aus. Er ließ erneut die Sirene erklingen und setzte zum Sturzflug an.

Je näher er dem Grund kam, umso deutlicher nahm die Wärmequelle analysierbare Konturen an. Aber wer dort unten auch lag, er hatte sich in eine äußerst unvorteilhafte Position gebracht. Auf dem ersten Blick bezweifelte B05 sogar, dass sich dort unten ein Mensch hingekauert hatte. Man sah nur die Rundung des Rückens, der Kopf und die Extremitäten waren zunächst nicht auszumachen. Erst als der Erkundungsroboter die Röntgeneinstellung bemühte, sah er die Knochen des Rückgrates und die Kniescheiben an den Seiten des Schädels. Und als er wieder auf Normalsicht schaltete, wurde ihm auch klar, warum.

Das, was wohl vor Anbruch der sicheren Stunden, mal als Unterschlupf gedient hatte, hatte sich zusammengezogen und den Körper des Menschen, wie eine zweite Haut umschlossen. Es war ein Glück, dass das Metall keine geschlossene Oberfläche besaß, sondern sich wie ein enggesponnenes Netz um den Organismus legte. B05 konnte berechnen, dass die Luftzufuhr zwar knapp, aber für ein Überleben seines Freundes ausreichte. Und tatsächlich zeigten ihm seine Sensoren ein schwaches Lebenszeichen.

Obwohl es nur eine dünne Schicht war, die sich um Hey du gelegt hatte, konnte B05 nicht einfach seinen integrierten Metallschneider einsetzen. Er hätte die empfindliche Hautmembran des Geschöpfes zerstört. Also machte er sich daran, großzügig um seinen Freund herumzuschneiden.

Es bereitete ihm keine Mühe, das Blech vom Körper zu lösen. Und es war dem Erkundungsroboter schleierhaft, wieso in ihm das Bild eines erlegten Jagdtieres in den Sinn kam und er verdrängte es, sobald er auf die Kleidung des Menschen schaute. Er erkannte frisches Blut darauf und stellte erstaunt fest, dass sich die Spuren abzeichneten, die er gestern noch für ein extravagantes Muster gehalten hatte.

So sanft es einer Maschine möglich war, legte er den Körper in eine ausgestreckte Position und beobachtete, wie sich der Brustkorb seiner Freundin hob und senkte. Das was er empfand, als er die Vitalwerte des Menschen checkte, war ihm wie so vieles an diesem Tag gänzlich unbekannt. Und auch dieses Gefühl war nicht Bestandteil seiner Ausgangsprogrammierung. Es hatte sich einfach gebildet. Es war angenehm leicht, fast so als hätte er sich einer physischen Last entledigt.

B05 schaute auf seine Freundin und grübelte über den Sinn dieser nutzlosen Reaktionen. Dann wandt sich eine Erkenntnis durch seine Schaltkreise. Sie rieb sich an den Innenseiten der Kabel und erzeugte einen Funkenregen. Er erhellte zunächst für einige Momente nur, dann immer deutlicher die Antwort auf eine Frage, die ihn bereits den dritten Tag umtrieb. Schließlich lag sie mit einer grotesk einfachen Klarheit vor seinem Visor. Und als seine Begleiterin endlich ihre Augen aufschlug und ein Wimmern aus ihrer Kehle glitt, wurde sie begrüßt mit der wichtigsten Offenbarung, die B05/47 in dieser Zeitlinearität erteilt hatte: „Hey du! Ich weiß, was der X-Turn ist.“



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Die Leserin

Luft!

Ausreichend Luft!

Luft, um ihre nach Sauerstoff hungernden Zellen zu versorgen, um ihre Gedanken zu klären und sie ins Bewusstsein zurück zuleiteten.


Luft, die ihrem Brustraum den Platz gab, sich ungestört zu heben und zu senken.

Ihr ganzer Leib pochte, stach und zog. Ihr Rücken fühlte sich an, wie eine einzige Wunde. Die verkrusteten Stellen, die der Druck des Metalls wieder aufbrach, brannten unter ihrer Kleidung. Durch die unnatürliche Stellung ließen sich ihre Muskeln nur mit Bedacht und unter Qualen in eine bequemere Position bringen. Und doch war es auch hier die Luft, die ihre Schmerzen linderte.

Es dauerte eine Weile, aber sie begriff schließlich wieder, wer sie war und wo sie sich befand. Über ihr flog B05 und Hey-du war sich sicher, dass sie der Maschine wieder einmal ihr Leben verdankte.

„Was hast du gesagt?“, hörte sie sich fragen.


„Ich weiß jetzt, was ein X-Turn ist.“


Hey-du richtete sich auf und auch wenn sie nicht verhindern konnte, dass ihr sein Gesicht entglitt, ging es ihr besser, als er vermutete.

„Das ist ja schön, B05. Dann kannst du mir das ja endlich erklären.“


Der Roboter wollte zunächst etwas anders wissen: „Was ist mit dir passiert? Warum ist der Unterschlupf zusammengebrochen?“

Der Leserin überlegte eine Weile, hielt dann aber die Antwort für ungefährlich. „Du wolltest Berechnungen über den X-Turn aufzeichnen. Möglicherweise hast du dabei den Stabilisator ausgestellt.“

„Das ist Wahnsinn und zudem grober Unfug. Mein eingebauter Stabilisator funktioniert auch im Stand-by-Modus. Warum habe ich das getan? Das macht keinen Sinn.“


„Ich kann dir da nicht weiterhelfen, ich verstehe von diesen Sachen nichts. Hast du denn was Relevantes in deinem Speicher gefunden?“


„Ich kann Anormalitäten im Spannungsspektrum abrufen und sie auch zeitlich zuordnen, aber es ist mir unmöglich, sie ohne eine Vergleichsmatix zu beurteilen.“


„Was das auch immer bedeuten mag?“


„Es bedeutet, dass...“


„Schon gut! Wir sollten weiter.“


„Willst du nicht frühstücken?“


Die Leserin schüttelte den Kopf. „Ich habe immer noch keinen Hunger.“ Der Anflug eines Lächelns zuckte über ihre Gesichtszüge. „Aber ich sehe da vorne ein trinkbares Gewässer. Ich habe Durst.“


„Und was machen wir dann?“


„Dann gehen wir in eine Gegend, die Ähnlichkeit mit der hat, in der du gestern aufgewacht bist. Also, in deinem...“


„...in meinem Gestern. Danke, das habe ich nun verstanden.“ Der Mensch glaubte, einen beleidigten Unterton vernommen zu haben. Begleitet wurde das Gebrummel der Maschine von einem Dreiklang. Die Leserin vermutete, dass die Maschine ihren Worten mehr Dramatik verleihen wollte.

Sie freute sich auf die Erzählung. Sie hatte lange genug darauf gewartet.


Es soll eine Geschichte erzählt werden, die geschah, als noch die alten Völker den Boden bestellten und kein Übel auf der Welt anzutreffen war.

Es war eine Zeit, in der die schreckliche Arkasta (und das war in der Tat ihr Name) alle tausend Jahre die Augen öffnete, um ihr Opfer entgegenzunehmen. Und es waren die Keime der bösen Gedanken, die in ein kleines Holzkästchen gesprochen werden mussten, das Arkasta zum Fraß vorzuwerfen war. Das Volk, in dem das Kästchen in diesem verhängnisvollen Zyklus verwahrt wurde, hatte im tausendsten Jahr den weisesten Mann oder die weiseste Frau zu benennen, die sich auf die Wanderung begab, um das Holzkästchen der schrecklichen Arkasta zu bringen und damit auch den eigenen Leib zu opfern. Zum Austausch dafür verschwand alles Böse von der Welt und sicherte den alten Völkern Frieden und Wohlstand für weitere Generationen.


„Und was hat das jetzt mit dem X-Turn zu tun?“, fragte die Leserin.


„Jetzt habe mal Geduld!“, antwortete B05 mit seiner Märchenonkelstimme. Märchenonkelstimme, das war der Name der Datei, die er für diesen Erzählmodus ausgewählt hatte.


Eines Tages hatte der Herrscher des Volkes, bei dem das Kästchen verweilte, eine Vision. Ihm wurde dort durch eine geheimnisvolle Frau in der Zwischenwelt verraten, dass der Frieden der alten Völker nur dadurch aufrechtzuerhalten war, dass das Unglück des Kästchens durch Arkasta in eine andere Dimension abgeladen wurde. Den König quälte daraufhin das schlechte Gewissen und als schließlich der weiseste Mann des Reiches seine Reise zur schrecklichen Arkasta antreten wollte, überredete er ihn, sich nicht als Opfer darzubieten, sondern Arkasta töten zu wollen.“


„Und wie?“, fragte die Leserin.


„Das ist jetzt nicht wichtig“, antwortete B05.


Das Weib des Weisen, ebenfalls eine weise Frau, spürte die Ungeheuerlichkeit des Plans und sie entschloss, ihm zu folgen und ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

Arkasta aber, die Schreckliche, war sich des Verrates bewusst und sie streute viele Fallen auf den Weg des Paares.


„Wie das denn? War sie allsehend und allwissend oder was?“, fragte die Leserin erneut.

„Wenn du mich nochmal unterbrichst, erzähle ich nicht weiter!“ Diesmal benutzte B05 die ungeduldige Version der Märchenonkelstimme.


Eine dieser Fallen jedoch wurde Arkasta zum Verhängnis. Auf den letzten Tagesmärschen, entspann sie ein X-Feld über das Gebiet. Ein Feld, das zwei Zeitebenen umfasste und sie jeweils in unterschiedliche Richtungen ablaufen lässt. Die Spanne eines gleichzeitigen Erlebens löst sich nach einer Weile auf und driftet in unterschiedliche Richtungen, so dass das Morgen der einen Person zum Gestern der anderen wird. Das X-Feld kann nur über wenige Tage aufrecht erhalten werden. In dieser Zeit dürfen die Akteure, somit die Menschen, die über Zeit nachdenken können, keine Widersprüche verursachen, welche die gemeinsame Zeitebene verändert.


„Das bedeutet, es dürfen keine Paradoxien entstehen.“ B05 benutzte für den Einschub wieder seine normale Stimme.


„Das weiß ich schon. Sollte das passieren, implodiert das X-Feld und vernichtet alles, was es enthält.“


Arkasta war von der egoistischen Unvernunft der Menschen überzeugt, denn sie wusste von ihnen nur, was die Kästchen der Völker enthielten. Und darin fanden sich nicht, wie wir vernommen hatten, die guten Eigenschaften des Menschengeschlechtes, sondern einzig die zerstörerischen Geschichten dieser Völker: Wut und Hass drängten sich dort neben Missgunst, Neid und Gier. Erzählungen von Geltungssucht und Eitelkeit schmiedeten einen Pakt mit selbstherrlicher Gleichgültigkeit und Dummheit. Es war kein glorreiches Bild, das Arkasta von den alten Völkern hatte. Und sie wusste nichts von den blühenden Landschaften, die sich durch ihre Hilfe entwickelt hatten.


Das war der Grund, warum sie sich sicher war, dass früher oder später das Paar einen Fehler beging, sich zu streiten begann oder einer den anderen übervorteilen sollte. Sie rechnete damit, dass das X-Feld bald in sich zusammenbrach, damit sie es in sich aufsaugen und so ihren Hunger für die nächsten tausend Jahre stillen konnte.


„Ich weiß, was du jetzt fragen willst,“ sagte B05 mit seiner normalen Stimme. „Du willst wissen, wie sie denn ein X-Feld, mit allem, was es enthält, in sich einsaugen will. Aber das steht hier nicht. Wahrscheinlich müssen wir uns Arkasta nicht als ein fleischliches Wesen vorstellen, sondern eher als etwas Geistiges, fast so etwas wie eine Göttin, obwohl sie weder etwas erschafft, noch unsterblich oder allmächtig ist.“


„Ich stelle sie mir gerade wie ein schwarzes Loch vor, das Materie und Energie in sich aufnimmt. Mit dem Unterschied allerdings, dass sich Arkasta ihrer Selbst bewusst ist.“


Das Paar erfasste seine Situation jedoch sehr schnell. Die beiden stellten einen Leitfaden von Verhaltensregeln zusammen, der es ihnen ermöglichte, ihre Geschichte zu erzählen, ohne die empfindlichen Zeitlinien innerhalb des X-Feldes zu zerstören. So schafften sie es, das Feld unbeschadet zu überwinden.


„Doch der weise Mann ...“ Ertönte die Märchenonkelstimme durch den blauen Nebel.


„Ich weiß“, unterbrach sie der Mensch. „Die Geschichte nimmt trotz dieses Erfolges kein gutes Ende. Aber nun kenne ich sie und weiß, woher die Verhaltensregeln stammen.“


„Was sind diese Verhaltensregeln genau? Die finde ich nicht in dieser Datei.“


„Keine Sorge, die wirst du noch erfahren. Regel Nummer 1 kennst du schon bereits: Erzähle nichts aus deiner Vergangenheit.“


„Gut, die habe ich jetzt gespeichert. Was machen wir nun?“


„Wir sollten einen Unterschlupf suchen. Das war eine lange Wanderung.“


„Das sehe ich ebenso!“


„Und B05? Vergiss bitte nicht, den Stabilisator zu aktivieren. Die Begeisterung, auch morgen von meiner Schlafstelle eingekuschelt zu werden, hält sich in Grenzen.“



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