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Kapitel 2 oder 11 - Wenn du dich draußen schlafen legst, vergiss den Stabilisator nicht.

  • Autorenbild: claudia_roman
    claudia_roman
  • 1. Feb. 2020
  • 15 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Mai 2024


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Die Leserin

Die Leserin blinzelte zur Decke und war erleichtert. Der Unterschlupf hatte die Form nicht verändert. Der Stabilisator funktionierte demnach wieder einwandfrei und es war diesmal nicht nötig, bis zur Rettung mit dem Kopf zwischen den Knien in einer unbequemen Position zu verharren. Sie fühlte sich besser. Mehr noch, es ging ihr so gut, dass sie einen Anflug von Überschwang niederringen musste.

Ihr Blick erfasste den Roboter, der sich auf einem Vorsprung in ihrem Stahlversteck niedergelassen hatte. Seine fünf Arme bildeten eine Stütze, die ihn am Herunterfallen hinderte und verstärkten den Eindruck einer gigantischen Roboterspinne, die in der Ecke auf ihr Opfer lauerte. Die Leserin stellte sich die Person vor, die von der anderen Seite die Geschichte erschließen sollte, für die also nun der zweite Tag der Reise angebrochen war. Diese Person kannte ihr Schicksal bereits und die Leserin ahnte, dass ihr letzter Tag in dieser Umgebung Probleme mit sich bringen sollte. Sie wusste zwar nicht, was für ein Bild dieser Leser oder diese Leserin über B05 hatte, aber man musste kein Raketentechniker sein, um die eine oder andere Andeutung des Roboters zu entschlüsseln und zu dem Schluss kommen, dass sein erster Eindruck vielleicht nicht der Beste war. Wie sollte jemand, der noch nichts über ihre gemeinsame Reise wissen konnte, erkennen, dass dieses Ding dort im Laufe der Zeit für sie ein guter Freund geworden war. Vielleicht sogar der Beste, den sie je hatte? Und gleichgültig, wie es klingen mochte: Mittlerweile war sie sich sicher, dass diese Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruhte.

Sie stellte sich vor, wie diese andere Person das Bild seines Freundes vor ihrem inneren Auge entstehen ließ. Die Abenteuer der Reise sah man dem Roboter an. Er hatte zwar seine Kugelform erhalten können und es ließen sich lediglich kleinere Beulen und Dellen erkennen, aber seine Oberfläche war von Rissen und Kratzern überzogen. Die Scheinwerfer waren zerbrochen und einige Lichter an dem Kontrollriemen, der sich um den Kugelmittelpunkt legte, waren defekt. Das einzige was beständig leuchtete, war das gelbe Lichtlein, das zwischen den optischen Sensoren angebracht war. Aus dieser Perspektive wirkte es wie die Nase in dem Gesicht einer abstrakten Figur. Eine Nasenspitze, an der man ablesen konnte, wie es um die Maschine bestellt war. Das gelbe Licht sagte dem Leserin nun, dass sich B05 im automatischen Ruhemodus befand. Er war also in der Lage, sich selbst zu aktivieren.

Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gebracht, sprang das Signal auf Grün. Die Spinnenbeine zogen mit einem Zischen an den Körper. Das Fauchen des Flugantriebs erfüllte den kleinen Raum und der Roboter trudelte in die Luft.

Er schwankte dicht vor dem Gesicht der Leserin und aus den Lautsprecheröffnungen, die um dem Äquatorring der Maschine verteilt waren, blecherte seine Stimme:

„Hey du?“






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B05/47


B05/47 hatte noch gute Erinnerungen an den gestrigen Tag.

Das bedeutete in seinem Fall, dass er die Aufnahmefragmente vor seinen Visor holen konnte, die sein Betriebssystem für relevant hielt. Im Normalfall war also nicht der gesamte Tag abrufbar, sondern nur einzelne Szenen.

Die letzten Stunden mussten für ihn demnach von ausgesprochener Bedeutung gewesen sein. Es gab nicht viel, was gelöscht wurde. Der Weg, den er auf der Suche nach einem Unterschlupf zurückgelegt hatte, gehörte jedoch ebenso dazu, wie der Ruheplatz selbst. Da keine Erinnerung an den Ort oder die Beschaffenheit der Umgebung aufzurufen war, konnte er nicht sagen, ob er sich noch dort befand. Was er aber mit Sicherheit wusste: Vor Beginn seiner Rast war er allein gewesen. Nun flog er direkt vor dem Gesicht der Gestalt, dessen Parameter er in sein System einspeiste.

Im Grunde sahen alle Menschen für ihn gleich aus.

Vier Tentakel zogen sich aus einem welligen Mittelteil, auf dem sich sich eine Beule erhob, die von einem kurzen Wulst gehalten wurde . Während an einer Stelle diese Schwellung zumindest annähernd einer Kugel oder einem Oval glich, war die andere Seiten von Furchen, Erhebungen und Öffnungen durchzogen. Seine Datenbank, die eine ganze Reihe dieser Gesichter gespeichert hatte, erklärte ihm, dass die Öffnungen, verschiedenen Sinnesfunktionen dienten. Sie waren zwar identisch angeordnet, enthielten aber winzige Unterschiede in der Formgebung und in ihren Abständen voneinander. Dadurch war es für die Angehörigen dieser Spezies möglich, individuelle Unterschiede wahrzunehmen. Ein Fakt, der B05 faszinierte, denn er konnte diese Differenzierungen nur erkennen, wenn er die Parameter vermaß. Aus der Beule, sozusagen an ihrem Pol, wuchsen bei den meisten Menschen Hornfäden unterschiedlichster Färbung. Bei einigen Exemplaren fand man diese sogenannte Behaarung auch mitten im Gesicht.

Im Gegensatz zu ihm waren diese Lebensformen in eine Richtung justiert.

Die Ausrichtung der Sinnesorgane war dabei wohl das bedeutendste Merkmal. Aber auch die Funktionsweise der Gelenke, die den Bewegungsradius der Extremitäten in eine Raumdimension bevorzugten, war bemerkenswert. Die Menschen hielten sich im Normalfall aufrecht. Dadurch wiesen die Beine, so wurden die Tentakel unterhalb des Hauptkörpers genannt, einen ausgeprägteren Muskulaturaufbau auf, als die Arme, die im oberen Bereich an den Seiten des Hauptkörpers schwangen. Der Zentralrechner, war im oberen Teil in der Beule unter den Hornfäden versteckt und durch Knochengewebe geschützt. Andere Funktionseinheiten befanden sich im Inneren des Rumpfes und auch hier stabilisierten und schützten Knochen die Körperstruktur. Bewegt wurden die Gestalten, wie er selbst auch, durch elektrische Impulse, die sich, allerdings in ungleich komplizierterer Anordnung, überall im Körper verzweigten. Sie führten nicht zu einer unmittelbaren Bewegung, sondern wurden durch einen umständlichen Prozess in Gang gebracht, der eine weitere Gewebeform im Wechsel zusammenziehen und erschlaffen ließ und somit einen Bewegungsablauf bewirkten. Diese Muskelarbeit verbrauchte Energie. Sie wurde in Form von verschiedensten Stoffwechselprozessen aus der Nahrung oder aus der Luft generiert und durch ein verzweigtes Versorgungssystem, von einem ununterbrochen pulsierenden Muskel durch den Körper getrieben. Das ganze Gebilde bestand in erster Linie aus Wasser, Proteinen und Lipiden und wäre auseinander gefallen, hätte es nicht eine dünne, mehrlagige Schicht zusammengehalten. Diese Hülle war selbst ein Sinnesorgan mit weiteren phantastischen Eigenschaften. Es sorgte für die Wärmeregulierung des Körpers, hielt Krankheitserreger fern und leitete wichtige Informationen über die Außenwelt an den Zentralrechner. Das System war perfekt, aber auch anfällig für Irritationen, die zum Teil zu irreparablen Schäden oder sogar zum Totalausfall führten.

Im Grunde waren die Menschen in ihrer Struktur, den Monstern der Kugelwelt nicht unähnlich. Und doch gab es wesentliche Unterschiede: Die Ungeheuer benötigten den Ruf des dunklen Vogels Arkasta und einen menschlichen Geist, der sie in die Welt holte. Die meisten waren nicht für alle sichtbar und sie verschwanden, wenn der Vogel den nächsten Zyklus einleitete. Die Menschen hingegen erschienen und verschwanden nicht einfach. Sie wurden geboren, um zu bleiben. Sie wuchsen und alterten und waren, wenn man es so nennen mochte, die Manifestation eines zeitlichen Prozesses, vielleicht sogar der Zeit selbst. Jedes Exemplar entwickelte ein Bewusstsein, das einen Willen formte (oder den Anschein eines Willens, so genau konnte das der Erkundungsroboter auf die Schnelle nicht analysieren). Somit war nicht nur die Materie, sondern auch die Zeit in der Lage, sich selbst zu erkennen.

Die Störungsanfälligkeit des Systems wuchs exponentiell mit zunehmenden Alter und endete immer und unwiderruflich mit einem Totalausfall, dem eine Zersetzung folgte. Auch hier unterschieden sie sich von den Monstern der Welt. Ein wahrnehmbarer Alterungsprozess war für diese Organismen unnötig. Ihr zeitlicher Ablauf bewegte sich in Arkastas Zyklen und die hielten sich nicht an naturgesetzliche Berechenbarkeiten.


Beide Lebenskonstrukte beeindruckte die Maschine. Besonders faszinierte B05/47 das Konzept der Endlichkeit. Einer Vorstellung, der er sich nur mathematisch nähern konnte. Das war etwas völlig anderes, als sich mit der Gesamtheit seiner Sinne in diesem Prozess zu bewegen. Mehr noch: Dieser Prozess zu sein!


Sie waren schon erstaunlich, diese Menschen und was den Erkundungsroboter am meisten imponierte: Nur die wenigsten waren sich ihrer außergewöhnlichen Komplexität bewusst. Es könnte sein, dass man einen Prozess nicht erkennt, so überlegte die Maschine, wenn man selbst ein Prozess ist. Man kann ihn erforschen, aber man muss sich nicht ständig beobachten. Aber auch das war nicht mehr als eine gewagte These, denn im Grunde wusste er nichts. Sowieso war es im Moment nicht die Hauptfrage, die ihn antreiben sollte.


Er war mittlerweile in der Lage, auf die Auswertungen der Gesichtserkennung zurückzugreifen. Aber das Ergebnis irritierte ihn über alle Maßen. Dass dieser Mensch nun vor ihm stand, hatte einen Unwahrscheinlichkeitsfaktor, der an den Rand der Unmöglichkeit stieß. B05 hatte zwar keine Mühe Unwahrscheinlichkeiten zu akzeptieren, diese hier aber betraf mehr als sein Rechenzentrum. Mit dem Menschen, der nun vor ihm stand, verband ihn die Erinnerung an den letzten Tag. Eine Geschichte, die er weder einordnen noch berechnen konnte.

Sein „Hey, du?“ war ein Ausdruck tiefster Verwirrung.



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Die Leserin

„Ach, wie witzig“, antwortete die Leserin. „Vor wenigen Tagen noch war ich an deiner Stelle. Auch ich fand meinen zweiten Tag in dieser Umgebung äußerst verwirrend.“


„Deine Sätze beinhalten nicht die Information, nach der ich verlangt habe. Aber es war auch nicht präzise genug ausgedrückt: Bist du dieses ‚Hey, du‘?“


„Du hast Recht. Das war keine Antwort auf die Frage. Und: Ja!“


„Was ‚ja‘?“


„Die Antwort auf deine Frage lautet ja. Ich bin die Person, die du ‚Hey, du‘ nennst. Und bevor du mir erzählst, was dir gestern passiert ist, bitte ich dich, das nicht zu tun.“


„Ich muss aber wissen, wieso du wieder ...“


„NEIN!“, unterbrach die Leserin scharf. „In diesem Punkt hast du mir zu vertrauen. Wenn du mir erzählst, was du erlebt hast, weiß ich, was auf mich zukommt und dann könnte ich mich entscheiden etwas zu verändern. Das allerdings hätte katastrophale Konsequenzen. Das Gleichgewicht des X-Feldes, in dem wir uns bewegen, ist sehr empfindlich. Wenn wir nicht aufpassen, zerstören wir das Feld und alles, was es umfasst, einschließlich uns selbst.“


„Ich kenne die Worte, die du benutzt, aber ihr Kontext erschließt sich mir nicht.“


„Das wird er aber. So viel darf ich dir verraten. Es wird nicht lange dauern und du wirst die Informationen in deinem Betriebssystem finden. Du suchst nur noch an der falschen Stelle.“


„Und wo musst ich was suchen?“


Die Leserin schwieg. Es war schwer, das Gleichgewicht zwischen dem zu halten, was gesagt werden durfte und worüber man besser kein Wort verlor, da es in die Katastrophe führen konnte.


„Wir sollten jetzt erst einmal einen Ausgang aus dieser Welt suchen oder zumindest eine Spur finden“, sagte sie schließlich. „Meine Reise ist fast zu Ende. Hast du Hunger? Ich könnte ja auch mal eine Zuckerspinne fangen und sie für uns braten. Obwohl du natürlich darin viel geschickter bist.“


„Ich besitze kein Hungergefühl. Ich bin eine Maschine.“


Die Leserin schielte zur Decke „Oh Mann, B05!“, sagte sie und begab sich zu der Öffnung, die in die Außenwelt führte. Sie war so niedrig, dass sie sich auf den Bauch legen musste, um hindurchzukriechen. Ihre Verletzungen schmerzten nicht mehr zu sehr. Trotzdem war es nicht angenehm, aus dem Versteck zu robben.


Draußen angekommen reckte sie sich ausgiebig und schaute über das Land. Sie stand auf einem Berg voller zerklüfteter Steine und Metallreste in allen möglichen und unmöglichen Formen. Auch an diesem Ort legten sich die blauen Nebelschwaden um die Inseln und verschluckten den Horizont.

„Was machen wir jetzt?“, hörte sie den Roboter. Er war durch die Öffnung getippelt und stand nun neben ihr.

„Erst einmal suche ich mir etwas zu Essen und du suchst weiter nach der Erklärung, warum ich dich schon einige Zeit kenne, obwohl ich dir völlig unbekannt bin. Morgen wirst du es wissen. Ich habe es erst erfahren, kurz bevor wir die Stadt verließen, aber ich darf es dir nicht sagen. Du musst selber drauf kommen. Und dann musst du mir die Geschichte dazu erzählen.“


„Mein System bietet mir als Erklärungsmöglichkeit meine Popularität an. Bin ich berühmt?“


Die Leserin lachte. „Nicht in dieser Welt, Alter!“ Sie machte sich daran, den Berg hinunter zu steigen, auf ein Gebilde zu, das wie das Skelett eines umgestürzten Krans zwei Inseln miteinander verband. „Hier bist du nur ein fliegender Schrotthaufen.“ Der Pfad, der darauf zuführte, war nur schwer begehbar. Er war übersät mit Metall, Geröll und Drahtgeflechten und die Leserin mühte sich über die Hindernisse.

„Hast du mich gerade beleidigt?“ Der Roboter startete seine Triebwerke und trudelte hinter seiner Begleitung her.

„Nein“, sagte die Leserin. „Du bist ein netter, fliegender Schrotthaufen.“

„Wäre es im Umkehrschluss in Ordnung, wenn ich dich gehender Kohlenstoffklumpen nenne?“

„Na, damit werde ich wohl leben müssen. Ist ja irgendwie das Gleiche.“

„Oh, nein! Die letzte Partizipalkonstruktion in deinem Satz hat mehr Silben. -

Wo willst du überhaupt hin?“


„Auf der anderen Insel hab ich eine Stelle entdeckt, in der es Zuckerspinnen geben könnte.“ Ihr Magen knurrte und das Wasser sammelte sich in ihrem Mund, als sie an die knackig-köstlichen Tierchen dachte. Sie hatte wieder Hunger. Das war ein gutes Zeichen.



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B05/47

Die Energiezufuhr des Menschen war schon ein Schauspiel.

Zuvor hatte B05 die Jagd seines Begleiters unterstützt.

Die Spinnen klebten, wie vermutet, unter einem Betonstück über dem Wasser. Der Roboter befürchtete, der Mensch könnte verhungern, wenn er nicht einschritt. Zuckerspinnen sind zwar recht flink, aber diese waren gerade ihrer Verpuppung entsprungen und krabbelten bedächtig dem Wasser entgegen. Er hatte die Bewegungen des Menschen mit der Fluchtgeschwindigkeit der Tiere berechnet, sein Waffensystem gezogen und abgedrückt. Die Betonplatte zersprang mit einem lauten Knall und die Wahrscheinlichkeit, dass er eines oder mehr Zielobjekte erlegt hatte, näherte sich der dreistelligen Prozentzahl. Es war sogar möglich, dass mindestens drei von den neun gezählten Zuckerspinnen noch genießbar waren. Eine ausgesprochen großartige Bilanz, wie er fand, besonders, wenn man bedachte, dass die Tiere nicht einmal die Handfläche des Menschen bemaßen und deshalb leicht verbrannten.

Zu seiner Verwunderung erntete er den vorwurfsvollen Blick des Menschen. „War das jetzt nicht ein wenig übertrieben?“ Eine Frage im Angesichte des Erfolges, die für ihn nicht nachzuvollziehen war.


Jetzt hatten sie sich auf einem Plateau niedergelassen und er betrachtete den Menschen, der gierig den Tarsus, den unteren Teil des Spinnenbeins, abriss und die haarige Haut aufbrach, um an das Fleisch zu gelangen. Mit seinen Zähnen zog er das weiße Gewebe von seiner ungenießbaren Umschalung und ließ die Reste zu Boden fallen. Er rieb einige Male seine Fingerkuppen gegeneinander, um die Härchen zu lösen, die daran klebten. Dann widmete er sich dem nächsten Bein. Nachdem „Hey, du“ das achte Bein verzehrt hatte, zerbrach sie die Spinne, indem sie den Hinterleib von ihrem vorderen Teil drehte. Mit Daumen und Zeigefinger dehnte sie die entstandene Öffnung. Die spontane Erhitzung durch die Feuerwaffe hatte die Eiweiße gerinnen lassen und machte es dem Menschen möglich, das Fleisch als zusammenhängenden rötlich-weißen Klumpen aus der Verschalung zu ziehen. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ die Nahrung auf die Zunge gleiten. Ein völlig unnötiges und Energie fressendes Unterfangen. Die Nahrungsaufnahme war ohnehin eine Handlung voller Bewegung, die einen Teil der aufgenommenen Energie sofort wieder verbrauchte. Dabei war es nicht nur der Kraftaufwand, der benötigt wurde, um an schwerzugängliche Teile der Nahrung zu gelangen, die Armbewegungen zum Mund und die Kaubewegungen und ganz zu schweigen, von den vegetativ gesteuerten Prozessen im Inneren des Verdauungstraktes. Das alles wäre für B05 gerade noch nachvollziehbar gewesen. Allerdings kam noch eine Anzahl blödsinniger Operationen dazu, wie das Hinundherwiegen des Kopfes oder eigentümliche Geräuscherzeugungen, wie Brummen oder Schmatzen. B05 beschloss, das menschliche Gebaren ein anders mal zu studieren, und analysierte die Beschaffenheit der Nahrung, die in den unterschiedlichen Bereichen des Tieres variable Konzentrationen von Fetten, Proteinen und Kohlenhydraten aufwiesen. Im Grunde bestand Mensch und Tier bis auf wenige Abweichungen aus identischen Baustoffen und der Erkundungsroboter konnte nicht anders, als ein Gefühl der Befremdung zu empfinden.

Vor seinem geistigen Auge, was sich in seinem Fall wie ein Hologramm über die reale Welt stülpte, erhob sich eine gigantische Maschine aus dem Wasser. Rotglühende Augen nahmen B05 ins Visier und mit jedem Schritt, die das Gebilde auf ihn zumachte, riss es einen Wasserschwall aus dem nassen Untergrund. Zusammen mit den Metallbeinen, die das 2,57fache der Körperlänge seines menschlichen Begleiters ausmachten, fielen sie mit lautem Getöse zurück in die Fluten. Schon bald fühlte sich der Erkundungsroboter von Greifarmen umschlossen und in die Höhe gehoben. Er starrte in eine Einflugschneise, die sich am unteren Teil des Kopfes in der gleichen Geschwindigkeit öffnete, in der B5 darauf zubewegt wurde. Direkt am Eingangsbereich gab ihm der Greifarm einen mechanischen Impuls, der ihn tief in die Schneise schleuderte. Von Krachen und Scheppern begleitet, landete er auf dem Boden, verlor dabei zwei seiner Greifarme, spürte, wie sein Visor zersplitterte und das Glas in seine empfindlichen Schaltkreise eindrang. Der obere Teil der Schleuse senkte sich bedächtig, um ihn zu zerquetschen und seine Einzelteile für den Aufbau und die Instandhaltung dieses fremden Systems zu nutzen.


Unter großer Mühe schüttelte er die Bilder ab und fühlte sich auf eine ihm völlig unbekannte Weise mit den Zuckerspinnen verbunden. Er beruhigte sich, in dem er sich klar machte, dass die Festplatte der Gliedertiere nicht für komplexe Rechenprozesse ausgestattet waren. Operationen der Art, die ihm gerade dazu verholfen hatte, sich eine fiktive Zukunft vorzustellen, waren für sie nicht ausführbar. Das bedeutete, sie litten nicht. Außerdem gab es für den Menschen, keinen anderen Weg in dieser Umgebung zu Überleben. Er war auf das Zuführen von organischen Substanzen genauso angewiesen, wie BO5 auf Elektrizität, der er sich ebenfalls aus einer externen Quelle besorgen musste.

Der Mensch schien bald am Ende seiner Nahrungsaufnahme. Seine Bewegungen wurden langsamer. Und der Erkundungsroboter beschloss, das zu tun, was seine eigentliche Aufgabe war: Er sah sich um.

Seine Visoren ermöglichten ihm einen Rundumblick und B05 bemühte sich um eine Erinnerung. Doch es war vergebens. Nichts von dem, was sich um ihn herum befand, kam ihm vertraut vor. Im Rücken des Menschen ragte eine der Kugelstädte über die Landschaft. Sie war relativ nah und ihr Licht spiegelte sich im Wasser. Er schätzte, dass sie wohl ungefähr sieben Tagesmärsche entfernt lag. Es war eine sehr grobe Schätzung, denn Arkasta bestimmte die Länge der Tage und sie war in dieser Beziehung unberechenbar.

Das war der entscheidende Gedankenimpuls. B05 schaltete in den Flugmodus und erhob sich.


„Wir sollten weiter. Ich weiß zwar nicht wohin, aber hier zu bleiben ist definitiv keine Option.“

Die Leserin leckte die Finger sauber und nickte. „Das weiß ich auch nicht. Ich hab ja noch keine Ahnung, wo das hier Enden wird. Ich weiß noch nicht mal, ob ich das alles überlebe.“ Sofort hob er mahnend den Zeigefinger. „Halt! Nicht spoilern!“

„Ich wollte doch gar nichts sagen.“ B05 versuchte, seine Blechstimme beleidigt klingen zu lassen, was ihm nicht so recht gelingen sollte. Dafür fand er in seinem Speicher eine Reihe seltsamer Geräusche, die er produzieren konnte und die er bei der nächsten Gelegenheit ausprobieren wollte. Doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Er sah in der Blickrichtung seiner Begleitung in ungefähr 6487,58 Metern eine labyrinthartige Anordnung stählerner Stegen, die über eine weitläufige Wasseransammlung führte. „Es könnte sein, das ich eine Tür brauche“, hörte er den Menschen sagen, als sei das ein Zeichen.

„Dort entlang!“, befahl der Roboter und deutete auf den Weg, der in Richtung der Stege führte.


Die Leserin

Der Weg dauerte länger als geplant. Die Leserin sehnte sich nach den halbwegs begehbaren Pfaden, die die Kugelstädte mit den elektrischen Feldern verband. Ihre Sehnsucht galt allerdings nur den ebenen Flächen der straßenähnlichen Vertiefungen. Weder die Summkrautplantagen, noch die Stadt waren ihr in angenehmer Erinnerung geblieben.

Mittlerweile wusste sie auch, an welchen Objekten sie sich festhalten konnte und welche Gegenstände sie besser mied, da sie bei Berührung ihre Form veränderten und dazu neigten Gliedmaßen zu zerquetschen oder zu durchbohren.

Es ist wie draußen in meiner Welt, dachte sie bei sich. Das ganze Leben bemüht man sich, in seiner Umgebung klar zu kommen, eignet sich Wissen und Können an und wenn man genug davon gesammelt hat, ist das Spiel auch schon fast vorbei.

Trotzdem, so war ihr weiterer Gedanke, hat sich das alles gelohnt. Sie wollte keine Stunde in dieser Dimension mehr missen. Egal wie abweisend und fremd sie sich ihr darbot, wie grausam und bizarr sie war, so hatte sie sie dennoch in einer tiefen, wertvollen Weise geprägt. Auch wenn ihre Traumreise in die Kugelwelt offenbar mehr einem Alptraum glich, hatte sie sie gelehrt, auf die Welt um sie herum mit anderen Augen zu blicken, ihr Wesen und ihre Lebendigkeit zu sehen, zu respektieren und, wenn es denn möglich war, wertzuschätzen. Letzteres war hier, im Gegensatz zum Respekt, nicht bei allen Dingen möglich. Die Welt war einfach zu feindselig. B05/47, der vorausflog und ihr den Weg zeigte, gehörte aber unbestreitbar zu der positiv besetzten Schnittmenge.

Morgen jedoch sollte die Maschine alles vergessen haben und ihr, der Leserin, sein wahres, unschuldiges Gesicht zeigen. Es musste der Tag sein, an dem der Erkundungsroboter, ihr Freund, sie das erste Mal begegnete.

„Ist es noch weit?“, fragte sie. „Ich würde sonst gerne eine Pause machen.“

Sie standen an einer Wasserfläche, die sich bis zum Ende seines Sichtfeldes vor der Leserin ausbreitete. Das Wasser gehörte zur Kugelwelt, wie die Insel aus Gerümpel, Stahl und Beton. Eine derart weitläufige Ansammlung der braunen Brühe aber, hatte sie in dieser Welt noch nie gesehen. Wenige Meter von ihnen entfernt, führte ein Metallgerüst über die Fluten und wurde nach einiger Entfernung vom Nebel verschluckt.

„Wir sind gleich da“, antwortete ihr der Roboter und deutete auf die Stege. „Wir haben noch einige Schritte auf dieser Überführung zu gehen, dann sind wir am Ziel.“

Die Leserin war müde. Es konnte nicht mehr lange dauern und Arkastas Ruf leitete die Nachtstunden ein. Sie hatten nur noch wenig Zeit, ein Quartier zu finden und den Stabilisator anzustellen. Ohne Schutz glich das Übernachten in dieser Umgebung einer Selbsttötung.

„Bist du sicher? Da liegt eine Menge Kram auf der Stege rum und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir es bis zum Ende des Überganges heute noch schaffen. Wir sollten und vielleicht so langsam auf die Nacht vorbereiten.“

„Das täuscht. Das andere Ufer ist näher, als du denkst.“


Sie konnte sich nicht zusammenreimen, warum ihn die Maschine belog. Sie hatte das noch nie getan. Sie hatte noch nichts über den X-Turn herausbekommen, das wusste die Leserin. Aber es war nicht auszuschließen, dass ihr dämmerte, wie sie den Tag abschließen musste, damit die Zeitfugen ineinander passten und so wenig Verwirrung wie möglich verursachten. Wenn das der Fall war, musste sie sich einfach auf B05 verlassen.

Sie befanden sich in der Mitte des Überganges, als Arkastas Ruf durch die Welt hallte. Ein Ruf, der an eine alte Lagerhalle erinnerte, in der längst vergessene Stahlkonstruktionen durch den Wind bewegt und gegeneinander geschoben wurden. Das Unbehagen stieg in der Leserin und auch wenn sie sich zur Gelassenheit mahnte, linderte das ihre Unruhe nicht. Es gab Orte, da sollte man sich zu gewissen Zeiten nicht aufhalten. Ein Übergang zwischen zwei Inseln, die recht weit voneinander entfernt lagen, die voller Gerümpel waren und über ein Gewässer führte, dessen Tiefe nicht abzuschätzen war, gehörte ohne Frage dazu. Die Gegenstände, die über dem Weg verstreut lagen, konnten sich verändern. Sie konnten zu scharfen Waffen werden, in dem Augenblick, in den man den Fuß auf ihnen abrollen wollte. Der Steg selbst konnte seine Festigkeit verlieren und unvermittelt in die Tiefe hinwegschmelzen. Oder er verwandelte sich in eine klebrige Masse, die jedes Weiterkommen unmöglich machte. Selbst kleine, unscheinbare Gegenstände hatten hin und wieder die Angewohnheit, ihr Volumen zu verändern, anzuwachsen und sich auszudehnen und alles, was ihnen in den Weg kam, zu zerquetschen. Und an das, was urplötzlich aus dem Wasser aufsteigen konnte, wollte der Leserin keinen Gedanken verschwenden.

Es glich einem Wunder, das außer einigen Knackerräuschen, mit denen die Dinge wütend oder warnend ihre Instabilität verrieten, nichts weiter geschah.

„Wir haben es geschafft!“, hörte sie schließlich die Maschine vor sich jubilieren. Sie hatte ihren fliegenden Freund auf der Strecke einige Male überholt und auch nun schritt sie zügig an ihm vorbei. „Das war eine komplett durchgeknallte Aktion, B05!“, schimpfte sie. „Jetzt lass uns ein Quartier finden. Wer weiß, wie lang die Nacht noch andauert.“ Das Gurgeln hinter ihm war kaum zu vernehmen. Es reichte aber aus, der Leserin das Blut aus den Gliedern zu treiben. Vor ihm flog sein Freund, unter ihm zitterte der Boden. Aus den Fluten erhob sich ein Wurm. Er schlängelte sich in die Höhe, so dass die Leserin den Kopf in den Nacken legen musste, um seine Größe zu erfassen. Ein übler Geruch quoll aus den Öffnungen, die das Tier übersäten. „Wir sehen uns morgen!“, hörte er die Worte des Erkundungsroboters, dann ließ sich der mächtige Körper auf die Stege fallen und sog dabei seinen Freund in eine der unzähligen Schlünde, die in seinen Organismus führten.


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©2019 Claudia Roman - Autorin. Erstellt mit Wix.com

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