Sinnsuche bei Dr. Melanie Harmsen, 2. Teil
- claudia_roman

- 3. Feb. 2023
- 3 Min. Lesezeit

Dr. Harmsen: Und? Wie ist es Ihnen ergangen bei der Neusortierung ihres Gewürzschränkchens?
Autorin: Ich muss ehrlich gestehen, ich hätte es fast vergessen. Es ist im Alltag beinahe komplett unter gegangen.
Dr. Harmsen: Ich schließe aus Ihren Worten, dass sie die Aufgabe dennoch erledigt haben?
DallE 2
Autorin: Natürlich! Ich hatte der Vehemenz, mit der sie darauf gedrängt haben, nichts entgegen zu setzen. Das erinnerte mich an meine alte, strenge Klassenlehrerin, mit der hat man sich auch besser nicht angelegt.
Dr. Harmsen: Und? Finden sie diese Vorgehensweise hilfreich oder schädlich?
Autorin: Lassen Sie mich überlegen.
Ich denke, das ist nicht klar zu sagen. Auf der einen Seite stelle ich es mir sehr mühsam vor, so eine Rasselbande von Kindern zu bändigen und gescheit zu beschulen. Dazu ist eine gewisse Klarheit und Unnachgiebigkeit unabdingbar. Auf der anderen Seite wurden nach meiner Erfahrung viele Aspekte, die ein Lernen erschwerten, außer acht gelassen.
Dr. Harmsen: Können sie präziser werden?
Autorin: Klar! Ich kann mich an einen Jungen erinnern, der musste nach der Schule in ein Hort, in dem auch Kindergartenkinder betreut wurden. Der hatte sowieso Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und häufig seine Hausaufgaben vergessen.
Auf den wurde in keiner Weise Rücksicht genommen. Er wurde immer wieder ausgeschimpft, obwohl er doch an seiner Situation gar nichts ändern konnte.
Dr. Harmsen: Ich verstehe. Wenn sie aber diese systemischen Probleme außer acht lassen, glauben Sie, dass Ihnen das strenge Vorgehen ihrer Lehrerin geschadet hat?
Autorin: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass Kinder eine gewisse Anleitung und deutliche Grenzen brauchen. Sie wissen noch nicht so viel von der Welt und müssen erst lernen, wie sie funktioniert und was von ihnen erwartet wird. Sie sind noch Suchende.
Dr. Harmsen: Und Sie?
Autorin: Was und ich?
Dr. Harmsen: Sie haben sich an mich gewandt, weil Sie den in Sinn in ihren Handlungen nicht mehr verstehen. Sind Sie nicht auch auf der Suche?
Autorin: Aber das ist doch etwas ganz anderes.
Dr. Harmsen: Wirklich?
Autorin: Ich bin ein erwachsener Mensch. Ich weiß, wie die Welt im Grunde funktioniert. Ich kann das, was ich tue, zum großen Teil bewerten und einordnen. Ich weiß, wann ich mir und meinem Umfeld nutze oder schade. Kinder können das noch nicht aus sich heraus. Ich brauche hierfür keine Anleitung.
Dr. Harmsen: Und doch führen Sie meine Anweisung, ihre Gewürze zu sortieren und zu beschriften aus. Und zwar nicht, weil Sie den Sinn dahinter verstehen, sondern weil mein bestimmtes Auftreten einen Gehorsamsreflex ausgelöst hat.
Autorin: Nein! Das war doch kein Gehorsamsreflex. Ich erkenne auch schon den Sinn meine Sachen in Ordnung zu halten. Das hat viele Vorteile. Ich muss nicht lange suchen und keine unnötigen Doppelkäufe tätigen. Es war mehr ein Schubser in die richtige Richtung. Deshalb habe ich es ja auch dann gemacht und bin sehr zufrieden.
Dr. Harmsen: Sie sind zufrieden mit ihrer Leistung.
Autorin: Genau. Ich bin zufrieden mit meiner Leistung und den Vorteilen, die sich daraus ergeben. Es erleichtert nun meinen Nahrungszubereitungsprozess und spart Zeit und Kosten.
Dr.Harmsen: Sie sehen also den Sinn hinter dieser Aktion und sind zufrieden, dass sie ins Handeln gekommen sind.
Denken sie, dass sie auch ins Handeln gekommen wären, wenn ich ihnen einen völlig unsinnigen Auftrag erteilt hätte. Zum Beispiel, dass sie die Gewürze doch auch ins Badezimmer stellen könnten?
Autorin: Ist die Frage ernst gemeint?
Dr. Harmsen: Worauf ich hinaus will: Sinnsuche ist eigentlich ein völlig unpassendes Wort. Ob das alles einen Sinn hat, ist eine große philosophische Frage, an der sich schon namhafte Denker den Kopf zerbrochen haben. Wenn wir den Begriff „Sinnsuche“ verwenden, meinen wir im Grunde die Suche nach einem Ziel.
Sehen Sie dieses Therapiezimmer? Die hellen Bodenpanele, das weiße Mobiliar, die strahlenden Wände und das Bild von Margarethe Walther an der Wand.
Autorin: Selbstverständlich.
Dr. Harmsen: Wissen sie was?
Es existiert nicht und das wissen Sie auch. Sie wissen, dass Sie sich mich gerade ausdenken, dass Sie nicht in diesem Raum sitzen, sondern an ihrem Computer und diese Zeilen schreiben. Sie sind für mich aber real. Sie sind die Grundlage meiner Existenz, die Schöpferin meines Universums und nicht nur das.
Durch Ihre Worte lebe ich in verschiedenen Universen, denn diese Zeilen werden bestenfalls gelesen und auch diese Person kreiert meine Existenz. Mich gibt es also in vielen Variationen und das alles durch Sie. Finden Sie nicht, das allein ist ein großartiges Ziel?
Autorin: Stimmt. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Ich merke, wie mir mir nun zunehmend klar wird, was ich hier gerade tue und für wen.
Aber...
Dr. Harmsen: Aber?
Autorin: Aber das hätten Sie mir doch so schon in der ersten Sitzung sagen können.
Dr. Harmsen: Das ist richtig, aber dann hätten Sie immer noch einen unaufgeräumten Haufen Gewürze im Schrank.






Kommentare