Die geheimnisvolle Insel - Kapitel 1
- claudia_roman
- 1. Feb. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Feb. 2024
Endlich Urlaub!

Ach, hätte ich doch nur nach Harlesiel fahren können!
Weder die Kälte, die von der rauen Nordsee über das platte Land zieht, noch die steifen Briesen, hätten mich von einem winterlichen Urlaub abgehalten.
Denn auch in der ungemütlichen Zeit hat der Norden seinen Reiz.
So sehe ich mich mit aufgeblähter Windjacke und zerrauftem Haar am Rand einer künstlichen Landzunge stehen. Dort hätte ich meine Träume zusammen mit der Fähre nach Wangerooge über die Wellen geschickt, begleitet von schäumender Gischt und den Sehnsuchtsrufen der Möwen.
Ich sehe mich auf dem Deich von einer Schafsherde umringt, die mich neugierig beschnuppert. Meine Hand hätte sich auf das Winterfell der Tiere gelegt und ihre wärmende Weichheit durch meine dicken Fäustlinge gespürt.
Ich sehe mich mit roter Nase und Gummischuhen am Strand entlangwandern und mich bei Ebbe ein kleines Stück ins Wattenmeer wagen, um mich von der einmaligen Schönheit des Naturschutzgebietes verzaubern zu lassen. Nur ein kleines Stück, denn der eisige Schlamm hätte die Wärme aus meinem Körper gesaugt und meine Füße in taube Eiszapfen verwandelt. Unzählige Muscheln und interessante Steine hätten den Weg in meine Tasche gefunden.
Vom Geschmack und dem Geruch der salzgeschwängerten Luft angeregt, wäre ich in ein gemütliches Fischrestaurant eingekehrt, in dem ein Abend mit netten Leuten und netten Gesprächen auf mich gewartet hätte.
Und zum Ende des Tages wäre ich in mein bezauberndes Ferienhäuschen im Dorf zurückgewandert. Ein Häuschen, dessen gusseiserner Name an der Fassade angeschlagen, worden war. "Seestern", hätte es geheißen, oder "Meerblick". Und dort in der Küche, hinter blaulackierten Fensterläden hätte mich mein Buch, der warme Ofen in der Küche und ein heißer Grog gelockt, bevor ich mich erschöpft und glücklich in die weichen Daunen hätte fallen lassen.
Es hätte so erholsam sein können!
Doch die Pandemie machte mir ein Strich durch die Rechnung.
Die Welle, die nach den Prognosen des RKI zum Jahresende 2020 auf uns zurollte, hatte nicht den Charme einer von winterlichen Böen aufgepeitschten See. Sie trug keinen Meeresduft übers Land, sondern den Gestank von Zorn, Furcht und Hilflosigkeit. Sie brachte keine Winterwinde, die einem das Haar zerzausen, sondern eine Übersterblichkeit, die schnell die tödliche Grippewelle von 2018 einholte und überlastete die Intensivstationen und das Krankenhauspersonal, das immer noch und noch mehr am Limit zu arbeiten hatte. Statt die Vorfreude auf einen gemütlichen Grog vor dem wärmenden Kachelofen, trübte die Kälte von Isolation und die Furcht um die Gesundheit meiner Liebsten meine Urlaubsplanung.
Dazu infizierte eine laute Minderheit mit ihrer Wissenschaftsfeindlichkeit, ihrer ideologisch aufgeladenen Solidaritätsverweigerung, einen als kritisches Denken missverstandenen Dunning-Kruger-Effekt und eine als Freiheitsliebe verkleidete Selbstsucht einen Teil meiner Familie und befeuerte so die Sorge um sie.
Es war frustrierend!
Und diese Frustration schlug sich auf meinen Schaffensprozess.
Meine ohnehin langsame Arbeitsweise schien sich durch die Umstände in die Unendlichkeit auszudehnen. Jeder Satz war ein Kampf, jede Idee musste gewaltsam gehoben werden.
Ich musste raus! Raus aus der Kugelwelt und weg von meinem Computer.
Doch wohin in drei Teufels Namen?
Die Rettung erschien in Form meines lieben Onkel Harald auf der virtuellen Heiligabendveranstaltung meiner Familie.
Während ich leise in den Kartoffelsalat mit Würstchen weinte, beschwerte sich Tante Bärbel lauthals über die Corona Diktatur und den monumentalen Massenmord, den sie durch die Impfung auf die Menschheit zurollen sah. Dabei schaufelte sich sich einen großen Haufen Rotkohl auf den Teller und ließ ihre Kartoffelklöschen (Halb und Halb) in der Bratensoße jämmerlich ertrinken. Sofort bekam sie Gegenwind von meinem Vetter Arno, der gleichzeitig an zwei Fronten zu kämpfen hatte: Zusätzlich zur meinungsstark vorgetragenen Anklage der Meinungsdiktatur durch seine Mutter, musste er sein Weihnachtsschnitzel vor seiner veganen Tochter verteidigen!
Der Schlichtungsversuch seiner Frau Susanne scheiterte an ihrem dünnen Stimmchen und so bearbeitete sie ihr Spiegeleibrot mit Messer und Gabel, sang ein Weihnachtslied, nippte ab und an ihrem Weißwein und wirkte völlig mit sich im Reinen. Meine Eltern hatten die Videoeinstellung nicht hinbekommen und so sah man nur einen Ausschnitt des Abendbrottisches und der Wand. Es schien sie allerdings nicht weiter zu stören.
Neben Schwurbel-Bärbel saß ihr Mann, mein Lieblingsonkel Harald, und schien als einziger von meiner Seelenpein Notiz zu nehmen. Er hatte sein eigenes Laptop auf dem Tisch stehen und wie seine Frau, den Teller voller Klöße und Rotkohl. Auf diesem Berg thronte ein Stück Braten, das so zart aussah, als zerfalle es schon beim ansehen.
„Ist mit dir alles in Ordnung, Claudia?“, fragte er.
„Wie kann denn in diesem Unrechtsstaat irgendetwas in Ordnung sein?“, fragte Bärbel meines statt und stopfte sich ein großes Stück Knödel in den Mund. Ich wollte gerade die Chance ergreifen und antworten, da mischte sich Vetter Arno ins Gespräch. „Kannst du nicht einmal deine Klappe halten, Mama? Du bist doch gar nicht gefragt worden.“ Und wieder ging es hin und her und erneut schraubten sich die Kampfjets beider Kontrahenten in schwindelnde Höhen aus denen sie sich mit Polemik und Respektlosigkeiten bombardierten. Der Vorwurf der verschmutzten Gesinnungsfarbe des Gegners wurde gekontert mit dem der Komplexitätsüberforderung durch mangelnde Bildung. Analogien zu schlafenden Säugetiere, wurden mit Nazikeulen niedergeknüppelt und nachdem wahrhaft kein Klischee ausgelassen wurde, warfen sich die Kontrahenten abwechselnd Boshaftigkeit und schlichte Dummheit vor und taten das mit einer Schnelligkeit, mit der ich keines ihrer Argumente auf einen Gehalt prüfen konnte. Untermalt wurde das ganze von dem weihnachtlichen Summen meiner Cousine Susanne und gab der Atmosphäre eine Slapstick ähnliche Komik, die darin gipfelte, dass sich beide Parteien vorwarfen nicht gesprächsbereit zu sein, um die Familie, das System und die ganze Welt spalten zu wollen.
Von irgendwoher aus dem Hintergrund der Wohnzimmerwand meiner Eltern erklang ein gereiztes Grunzen und bald darauf verschwand sie vollends von meinem Bildschirm. Ob es daran lag, dass sie das Streitgespräch nicht weiter verfolgen wollten oder ob der Akku ihres Computers leer war, kann ich nicht sagen. Was mir jedoch auffiel war, dass es anscheinend keinem aus meinem Verwandtenkreis aufzufallen schien.
Ich erwische mich dabei, dass ich der angespannten Atmosphäre in diesem Text mehr Raum gebe, als ich es ursprünglich beabsichtigte und auch mehr, als für die Geschichte wirklich von belang ist. Ich vermute, ich bediene mich einer psychologischen Vermeidungsstrategie, denn die Konsequenzen, die der gutgemeinte Ratschlag meines lieben Onkel Harald nach sich zog, konnte ich natürlich noch nicht abschätzen. Verborgen vom familiären Gekeife und Gezeter wandte er sich direkt durch die private Chatfunktion an mich: Du musst hier raus, Liebes!, schrieb er. Ich habe ein Angebot von einem Freund eines Freundes erhalten. Der bot mir für nächste Woche eine Schiffsreise an.
Dir ist schon klar, dass wir im Lockdown sind? , schrieb ich zurück.
Mein Kopfschütteln war ihm nicht verborgen geblieben, denn er zwinkerte mir auf dem Bildschirm verschwörerisch zu. Ein Freund von mir hat eine Insel im Pazifik und bietet einem ausgesuchten Kreis eine einwöchige Erlebnisreise an, schrieb er. Es ist eine sehr kleine Insel auf der es nur eine Art Campingplatz und einen Kiosk gibt. Mein Freund sagt, dieser Kiosk ist Supermarkt, Postamt, Polizeistation, Feuerwehrzentrale und Zahnarzt in einem.
Wieso Zahnarzt?, Von allen Fragen, die ich nun hätte stellen können, war das anscheinend die Wichtigste, was wohl das Ausmaß meiner Erschöpfung dokumentierte.
Jedenfalls, schrieb mein Onkel weiter, ohne auf meine Frage einzugehen. Ich möchte deine Tante in ihrem augenblicklichen Zustand nicht alleine lassen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es von Vorteil ist, wenn sie mitbekommt, dass es für einen ausgewählten Kreis möglich ist den Lockdown zu umgehen.
Kurz darauf verfolgte ich die Fortsetzung seines Textes: Mein Freund leugnet nämlich weder die Existenz, noch die Gefährlichkeit der Krankheit. Es ist sogar so, dass er eine vierzehn tägige häusliche Quarantäne verlangt, bevor du durch einen negativen PCR-Test den Zugang zu seinem Privatjet erhältst, der dich zunächst auf die größte Insel des Archipels fliegt. Dort wirst du erneut getestet, bevor dich eine Fähre auf die Zielinsel bringt und du dort erstmals mit den anderen Gästen zusammentriffst.
Ich glaubte kaum, was ich da las. Wollte mich mein Onkel veräppeln oder meinte der das ernst? Das ist aber ein ganz schöner Aufwand für eine Woche Erlebnisurlaub, Onkel Harald, schrieb ich. Überhaupt, was sind denn für Erlebnisse geplant?
Wenige Augenblicke später erschien die Antwort in der Chatbox:
Es gibt sportliche Angebote und Entdeckungstouren. Die Insel hat eine aufregende Geschichte mit einer eigenwilligen, religiösen Vergangenheit voller dunkler Mystik. Es gibt ein unterirdisches Labyrinth, das man besichtigen kann. Ich kann mir gut vorstellen, dass da etwas für dich dabei ist, um dich zu inspirieren.
Das klang in der Tat ganz nach meinem Geschmack.
Wenn du allerdings nur deine Ruhe haben oder dich ein wenig sportlich betätigen möchtest, las ich weiter, ist auch das möglich. Es gibt einen ausgedehnten Sandstrand und bezaubernde Wanderwege durch den exotischen Wald und / oder einer bizarren Steinwüste vulkanischen Ursprungs. Ich habe die Bilder gesehen und war beeindruckt. Ich werde dir die Fotos zuschicken, zusammen mit den Kontaktdaten deines Freundes. Dann kannst du eine Nacht darüber schlafen und dich bei ihm melden. Du musst nur sagen, dass du an meiner Stelle fliegen möchtest.
Zu lange solltest du aber nicht warten, denn ich sagte ja schon, dass du dich vorher zwei Wochen selbst isolieren musst.
Eigentlich brauchte ich keine lange Überlegzeit. Zu verlockend war das Angebot. Und was könnte es schaden? Im Gegenteil, es stellte eine willkommene Gelegenheit aus der schlimmen aktuellen Situation dar und bot die Chance, wieder in die Spur zu kommen.
Dann erschien die letzten Sätze meines Onkels für diesen Abend auf meinem Bildschirm:
Ich möchte dich allerdings nur um eines noch bitten. Erzähle niemanden, wo du dich befindest. Sage einfach, dich hat das Virus erwischt und du willst ein paar Tage deine Ruhe haben. Ich erledige den Rest und werde unsere Leute beruhigen.
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